Leseprobe
127 Idealporträt einer jungen Frau Tullio Lombardo, zugeschrieben Carona (?) um 1455–1532 Venedig Um 1525/1530 Marmor; 49,2×40×8,5 cm Seit 1726 in den Inventaren der königlichen Sammlung nachweisbar Inv.-Nr. H4 118/255 Das Werk stammt aus dem Besitz des preußischen Königs Friedrich I. und wurde im 1701 erschienenen Prunkband über seine Antikensammlung als römisches Por- trät der Livia bezeichnet. Als sein Sohn zwischen 1723 und 1726 die Antikensamm- lung an August den Starken schenkte, kam auch das vermeintliche Livia-Relief nach Dresden, wo es bis ins 19. Jahrhundert als antikes Original galt. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um eine typische Schöpfung der venezianischen Hochrenais- sance und kann Tullio Lombardo selbst oder einem seiner besten Mitarbeiter zuge- schrieben werden. Tullio war zu Beginn des 16. Jahrhunderts der führende Bildhauer und Architekt Venedigs und betrieb eine große Werkstatt, die Altäre, Grabmäler und Ausstattungen von Kapellen produzierte. Daneben schuf Tullio kleinformatige, für private Sammler bestimmte Reliefs. Auf diesen sieht man vor einem glatten Hintergrund ein bis zwei Brustbilder schöner Männer und Frauen, bei denen es sich nicht um realistische, sondern um ideale Porträts handelt. Kurioserweise haben die Figuren meist unter der Schulter schräg abgeschnittene Arme, so wie dies auch beim Dresdner Relief der Fall ist. Dadurch kommt es zu einem raffinierten Spiel mit der Wahrnehmung des Betrachters, der nicht weiß, ob er es mit der Darstellung einer antiken Büste oder mit dem Porträt eines Menschen zu tun hat. Tullio erfand mit diesen Reliefs eine eigene Gattung, die die Sehnsucht der Zeit nach einer pseudo antiken Traumwelt befriedigte. | ckg
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