Leseprobe

88 In Whitehall wurde das eigene Handeln einerseits von der Ungewissheit über die Rahmenbedingungen − konkret: über die Absichten Moskaus und Washingtons, die katastrophale Wirt- schaftslage des eigenen Landes, die Unsicherheit ob der bevorste- henden Wahlen zum Unterhaus sowie von wirkmächtigen histori- schen Narrativen wie »Versailles 1919« und »München 1938« −, andererseits vom eigenen Selbstverständnis diktiert. Noch im Februar 1945 war Churchill zuversichtlich aus Jalta nach London zurückgekehrt. »Poor Neville Chamberlain«, ließ er einige seiner Minister wissen, »believed he could trust Hitler. He was wrong. But I don’t think I’m wrong about Stalin.« 13 Davon war wenige Wochen später keine Rede mehr. Im Gegenteil: Als die geschichts­ trächtigen Hauptstädte Mitteleuropas in den letzten Kriegswochen nacheinander fielen, rückte die Frage, welche Ziele die Sowjetunion in Europa verfolgte, in London einmal mehr in das Zentrum besorgter Überlegungen. Und wieder lautete die lapidare, aber alles andere als beruhigende Antwort: »a riddle wrapped in a mystery inside an enigma«. 14 Zu seinem Schrecken musste Churchill erkennen, dass sich außenpolitischer Handlungsbedarf und individueller Handlungs- spielraum umgekehrt proportional zueinander verhielten: Während jener zunahm, schrumpfte dieser von Monat zu Monat, von Woche zu Woche und letztlich sogar von Tag zu Tag. Vor diesem Hintergrund ist nicht allein der von Churchill im Oktober 1944 an Stalin gerichtete Vorschlag zur Aufteilung Südosteuropas in Interessensphären zu verstehen, sondern auch der ebenso erratische wie erfolglose Appell des Premierministers an den soeben ins Amt gekommenen amerika- nischen Präsidenten, den Rückzug der angloamerikanischen Streitkräfte aus den mit Moskau vereinbarten Gebieten zu verzögern, um Stalin am Konferenztisch Zugeständnisse abzupressen. Mehr denn je war das Vereinigte Königreich auf die Unterstüt- zung durch die amerikanische Regierung angewiesen. Doch Churchills Mahnungen stießen in Washington bis auf Weiteres auf taube Ohren, zunächst bei Präsident Franklin D. Roosevelt, der um jeden Preis auf eine enge Kooperation mit Stalin zu setzen schien, dann auch bei dessen Nachfolger Truman, der einer vorzeitigen Kraftprobe mit Moskau ebenso eine Absage erteilte wie einer unverzüglich anbe- raumten Friedenskonferenz. 15 Weil Roosevelts Ankündigung auf der Krim-Konferenz, die amerikanischen Streitkräfte spätestens nach zwei Jahren aus Europa zurückziehen zu wollen, darüber hinaus unverändert Bestand hatte, blieb London gar nichts anderes übrig, als seinerseits ein abwartendes Spiel zu spielen. Die Rolle des Lepi- dus im Triumvirat mit Octavian und Antonius erschien nicht nur dem designierten Nachfolger Alexander Cadogans ebenso wenig verlo- ckend wie die Aussicht, am Ende Stalin allein gegenüberzustehen. 16 Schon seit dem Jahresende 1940 hatten nur amerikanische Kredite den frühzeitigen ökonomischen Kollaps des Vereinigten Königreichs verhindert. Nach dem Sieg beliefen sich die Kriegsschul- den auf 4,7 Milliarden Pfund, das Handelsbilanzdefizit auf 1 Milliarde

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