Leseprobe
99 Zum Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz war Deutschland nicht nur ein in vier Besatzungszonen aufgeteiltes Land, das als Staatswesen gar nicht mehr bestand. Auch die Bevölkerung war in vielerlei Hin- sicht fragmentiert. Das begann schon mit der Frage des Kriegsendes: Für Deutsche aus dem Raum Aachen beispielsweise war der Krieg bereits im September 1944 vorbei, während Berlinerinnen und Ber- liner das Einstellen der Kampfhandlungen erst am 2. Mai 1945 erleb- ten. Insofern galt die Kapitulation der Wehrmachtführung für das Deutsche Reich den meisten nur als offizieller Beleg einer Realität, die mehr oder weniger lange schon existierte. Diese wesentliche Voraussetzung muss man sich vergegenwärtigen, ehe man sich mit der Situation »der Deutschen« nach dem Ende des Zweiten Welt- kriegs beschäftigt. In diesem Kontext verstellte das Narrativ von der »Stunde null« über die Zeitläufte hinweg allzu oft den Blick auf die Diversität der Startbedingungen in der deutschen Kriegsfolgen gesellschaft. Zwar hat die Geschichtswissenschaft die tatsächliche Existenz einer »Stunde null« allgemein widerlegt. Dem individuellen Empfinden der zeitgenössischen Deutschen entsprach diese Zuschreibung jedoch weitgehend. 1 Gemeinsam war den meisten das Gefühl der Erleichterung, die Kampfhandlungen überlebt zu haben. Gleichwohl verbanden sich damit häufig Apathie sowie konkrete und diffuse Ängste vor dem, was kommen würde. Bis zum Schluss hatten die NS-Propaganda ebenso wie viele militärische Befehlshaber die Motivation zum Wei- termachen auf eine »Endsieg«-Phraseologie gestützt und schürten die Furcht vor einer Rache der Sieger. Zeitgleich waren die letzten Monate des Krieges für die Deutschen selbst, die zuvor Not, Tod, Mord und Zerstörung über ihre Nachbarn gebracht hatten, die bei Weitem gewalttätigsten und blutigsten. 2 Bis auf die von Deutschen oder in deutschem Namen Geknech- teten und Gefolterten, Verschleppten oder auf andere Weise Entrech- teten nahm die Mehrheitsbevölkerung das Kriegsende als Niederlage wahr, als Zusammenbruch des bisherigen Lebens, und fürchtete sich vor der Vergeltung der Sieger, insbesondere aus dem Osten Europas, vor einer ungewissen Zukunft. Zwar war man nicht mehr der ständi- gen Todesgefahr durch Kriegshandlungen ausgesetzt, aber die Lebensbedingungen hatten sich in den letzten Kriegsmonaten rapide verschlechtert. So ging der alltägliche Überlebenskampf vor dem Kriegsende auch nach diesem weiter: Es fehlte an allen existenziel- len Dingen, von Lebensmitteln bis zu Wohnraum. Etliche Städte lagen in Trümmern, die Infrastruktur war größtenteils ebenso zusammen gebrochen wie die Energieversorgung. Millionen Deutsche befanden sich auf der Flucht, allein elf Millionen weitere in Kriegsgefangen- schaft. So stand in der direkten Nachkriegszeit für die meisten Deutschen das Überleben im Vordergrund. Politik war ein Geschehen, das sich für sie im Hintergrund oder über ihren Köpfen abspielte. In dieser Hinsicht wollte man sich außerdem schon deswegen nicht positionieren, weil dies womöglich Fragen nach der individuellen John Zimmermann ← Zerstörtes Brandenburger Tor und der Reichstag, nach 1945
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1