Leseprobe

101 Die Erosion der stets propagierten »Volksgemeinschaft« begann aber bereits im Wendejahr des Zweiten Weltkriegs, 1943, und setzte sich angesichts der Niederlagenserie der Wehrmacht und ihrer Verbündeten in den folgenden beiden Jahren allmählich fort. Als der Landkrieg das Heimatland erreichte, mutierte die deutsche Gesellschaft insgesamt, wie schon zuvor in den vom Bombenkrieg betroffenen Gebieten, in eine »Keller«- und »Trümmergesellschaft«. In ihr überlebte zunehmend nur, wer improvisieren und organisieren konnte, was die allgemeine Individualisierung beförderte. Zu den dringlichsten Wünschen dieser Zeit avancierten immer mehr das »Überleben« und das »Durchkommen« – an der Front ebenso wie in der Heimat. Dass sich zeitgleich die bis dato gültigen Sozialbeziehun- gen wegen der umfassenden Einziehungen zur Wehrmacht, steigen- den Verlustraten, Evakuierungen, Flucht oder auch Kinderlandver- schickung auflösten, katalysierte diese Individualisierungstendenzen. Mit der Zeit fokussierten sich die Deutschen ausschließlich auf die eigene Person und die engere Familie. 5 Weil der Zuspruch der breiten Masse gerade von den Erfolgen des »Dritten Reiches« abhängig war und die Ideologie maßgeblich darauf beruhte, Erfolge durch Stärke erzwingen zu können, verän- derte diese Entwicklung Charakter und Rolle des NS-Regimes maßgeblich. Dass gegenüber der Sowjetunion eine massive Furcht vor Vergeltung bestand, weist dabei auf ein sehr viel breiteres Wissen um die Verbrechen im Osten hin, als dies die meisten eingestanden

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