Leseprobe

102 haben. Auch deswegen äußerte sich in den letzten Monaten des Krie- ges in weiten Kreisen die Hoffnung, der Krieg möge bald durch die Besetzung der Westalliierten beendet werden. Ihnen gegenüber dominierte eine Mischung aus Neugier und Ungewissheit. 6 Die Einstellung der Bevölkerung insgesamt kann im Zuge dieser Entwicklung als zunehmend kriegsmüde, aber nicht widerständisch beschrieben werden: »Im Großen und Ganzen sind die Menschen den Krieg herzlich leid. Die lange Arbeitszeit, die weiten Wege, die sie heute vielfach zu Fuß machen müssen, der Mangel an Waren usw. usw. Aber sie sind es einfach nur leid und wünschen sich es nicht. Nicht nur, weil keiner seinen Kopf hinhalten will, solange einer bereit- steht, um ihm mit dem Knüppel darüber zu schlagen, sondern auch, weil keiner weiß, was er tun könnte, wie er es tun könnte, mit wem es [sic!] tun könnte und mit was . Und er weiß vor allem nicht, wozu er etwas tun soll [Hervorhebungen im Original; J. Z.]«, berichtete der Sozialdemokrat Jupp Kappius einem Genossen. 7 Der äußere Antrieb war zunächst auch relativ gering, solange es das meiste noch zu kaufen gab und ergo kein Hunger herrschte. Sogar die Ausgebombten versorgte das Regime so gut, dass sich deren Wut auf die bombenden Gegner richtete. Der deutschen Füh- rung war es während des gesamten Krieges gelungen, die Ernäh- rungs- und Versorgungslage der eigenen Bevölkerung auf einem deut- lich höheren Niveau sicherzustellen als dies im Ersten Weltkrieg gelungen war, und wesentlich besser, als es in den Gesellschaften der anderen kriegführenden Mächten, ausgenommen den USA, gelang – freilich um den Preis der absoluten Ausplünderung der von der Wehrmacht eroberten Gebiete. 8 Auch die Kirche machte noch immer Stimmung für den Krieg. Der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber rief noch in seinem Hirtenbrief vom 1. Februar 1945 dazu auf, auf jeden Fall »das kriegerische, heldenhafte Ringen um unser Dasein und unsere Zukunft nicht im mindesten an[zu]tasten oder [zu] schwächen [...]. Der tobende Weltkrieg verlangt von der christlichen Bevölkerung aber nicht nur Kämpfer, die bereit sind zu leiden und zu sterben für das Volk. Er fordert auch in steigendem Maße von denen daheim die allergrößten Opfer, die überhaupt ein Volk zu bringen vermag.« 9 Die meisten Deutschen kündigten Hitler und dem NS-Regime die Gefolgschaft tatsächlich erst in letzter Minute auf, als es an ihre eigenen Lebensgrundlagen ging, und nur dort, wo die Staatsorgane nicht mehr in der Lage waren, die gegebenen Befehle, Anordnungen und Erlasse durchzusetzen. 10 Bis dahin blieb für die große Mehrheit der »Führer« der einzige Rettungspunkt – »letzter Halt und letzte Hoffnung«, wie es noch dem letzten Bericht des Inlandnachrichten- dienstes zu entnehmen war. 11 Auf Hitler allein wurde gehofft, während das eigene Schicksal frei von jeglicher Verantwortungs­ übernahme bejammert wurde. Für viele Menschen war die Situation in den letzten Kriegsmonaten angesichts der Gebietsverluste zunehmend existenziell. Der Wegfall der während des Krieges syste- matisch in die besetzten Gebiete verlagerten Produktion, auch des Deutsche Kriegs­ gefangene in Aachen, Oktober 1944

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1