Leseprobe
129 »Nacheinander geht alles nur, solange man am Leben ist, um einem Kind einen Splitter aus dem Fuß zu ziehen, den Braten rechtzeitig aus dem Ofen zu nehmen oder ein Kleid aus dem Kartoffelsack zu nähen, aber von Schritt zu Schritt wird auf der Flucht das Gepäck weniger und das, was man zurückläßt, mehr, und irgendwann hält man an und sitzt nur noch, und dann ist gerade noch das Leben vom Leben übrig, und alles andere liegt in vielen Gräben vieler Straßen ...« 1 Jenny Erpenbeck, Heimsuchung Potsdam, Sommer 1945. Im Schloss Cecilienhof treffen sich drei Herren im fortgerückten Alter. Sie stehen jenen Nationen vor, die den Krieg über Hitlers Deutschland gewonnen haben. Wir alle kennen das Foto jener »Großen Drei« – Churchill, Truman und Stalin –, die in bequemen Korbsesseln im Garten des Potsdamer Schlosses sitzen. Sie entscheiden nicht nur über Deutschlands Zukunft, sondern teilen zugleich die Welt neu auf. Es ist eine Welt, die durch den Zweiten Weltkrieg und den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch aus den Fugen geraten ist. Potsdams Beschlüsse sind allein deshalb möglich geworden, weil der von Deutschland entfesselte Eroberungs- und Vernichtungskrieg alles bislang Vorstellbare übertroffen hatte. Doch machen wir uns nichts vor: Kurz nach Kriegsende in Europa steht nicht allein der Sieg über Hitlers Deutschland im Fokus. Vielmehr zeichnet sich bereits in diesen Sommerwochen die alte und während des Krieges nur vorübergehend verstummte Rivalität zwischen den beiden großen Siegermächten USA und Sowjetunion ab. Potsdam dient als Vorspiel zu einem neuen Konflikt, der jahrzehntelang als »Kalter Krieg« bekannt sein wird. Für die einen heißt das gefrorene Schockstarre zwischen zwei ideologischen Systemen und Eiserner Vorhang, für viele Teile der Welt verbergen sich hinter diesem heim tückischen Begriff jedoch unzählige blutige, »heiße« Kriege. Deshalb sitzen diese Herren in Cecilienhof nicht nur zu Gericht, sondern sie reisen mit handfesten Interessen an. Jeder will sich ein Stück des Kuchens sichern. Argwöhnisch beäugen sie sich und mit ihnen die angereisten Delegationen. In diesem Augenblick werden sie zu Schreibtischtätern, denn sie spielen bei Zigarren und Whiskey das ewige Spiel, eine Welt nach ihren geopolitischen, strategischen und ideologi- schen Interessen neu aufzuteilen. Für jene drei Herren ist zu keinem Zeitpunkt maßgeblich, dass hinter ihren Planspielen Millionen Menschen stehen. Die Betroffenen sind nicht mehr als Manövriermasse und – ein schreckliches Wort – allenfalls Kollateralschäden ihrer Machtpolitik. Potsdam bildet in dieser Hinsicht den Abschluss als eine der letzten Konferenzen der Moderne, auf der Großmächte ihre Interessensphären sichern. Diese Tradition reicht in die Frühe Neuzeit zurück und erlebt im kolonialen Zeitalter bis weit ins 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Auf solchen Konferenzen werden willkürlich Grenzen neu gezogen, korrigiert, erneut verschoben, und am Ende betrifft es Millionen Menschen. Auf- grund der Potsdamer Entscheidungen, bei musikalischen Soireen und festlichen Diners, verlieren Millionen Europäer für immer ihre Heimat. Andreas Kossert ← Mit dem Pferdefuhrwerk auf der Flucht vor sowjetischen Truppen, Anfang 1945
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