Leseprobe
130 »So sind die Ereignisse in diesem Oderdorf in der Mitte des 20. Jahrhunderts gewiß nur ein winziger Tropfen im unendlichen Meer der Geschichte«, erinnert sich der Brandenburger Karlheinz Gleß, als er 1945 als Folge jener Beschlüsse seine Heimat Peetzig verliert. Ein kleines Dorf an der Oder, das mitten in Brandenburg liegt und – mitten in Deutschland. Niemand ahnt bei Kriegsende, dass dieses Dorf bald polnisch werden und fortan Piasek heißen würde. Für seine Bewohner bedeutet die Neuvermessung Europas in Potsdam den unwiederbringlichen Verlust ihrer angestammten Heimat, ihrer ver- trauten Lebenswelten und von allem, was gestern noch wichtig war. Die drei in Potsdam tagenden Politiker haben nie von Peetzig gehört, für sie ist das Schicksal der Dorfbewohner nur jener winzige Tropfen im unendlichen Meer der Geschichte, aber für die Peetziger bedeutet es die Zäsur ihres Lebens, die alles in ein Davor und Danach teilt. Denn mit ihrer in Potsdam beschlossenen Vertreibung endet für sie »das Leben, das unwiederbringliche, unersetzbare Leben«, wie Karlheinz Gleß zurückblickend sagt. 2 Kaum hundert Kilometer östlich von Schloss Cecilienhof fließt die Oder, an deren Ufer das branden- burgische Peetzig liegt. Menschen verlieren ihre Heimat. Auch die Schriftstellerin Christa Wolf gehört zu ihnen. »Man läßt den Auszug aus der Heimat nicht unbeweint«, weiß die Protagonistin Nelly in ihrem autobiografi- schen Roman »Kindheitsmuster« zu sagen. Christa Wolf stammt ebenfalls aus einem Brandenburg, das in der Geschichte versunken ist. Ihren Geburtsort Landsberg, eine neumärkische Stadt an der Warthe, würde heute wohl kaum ein Brandenburger mehr auf der Landkarte verorten können. Die Stadt liegt heute in Polen und heißt Gorzów Wielkopolski. Auch Christa Wolfs Biografie zeigt, wie sehr die dramatischen Zeitläufte in der Mitte des 20. Jahrhunderts Brandenburg verändert haben: Krieg, Zivilisationsbruch und schließ- lich Vertreibung. Grenzen werden verschoben, Millionen Menschen in Europa verlieren ihre Heimat, unter ihnen 14 Millionen Deutsche. Einer von ihnen ist Friedrich Biella. Am frühen Morgen des 21. Januar 1945 bricht er mit seiner Familie und zwei Pferdewagen aus einem kleinen Dorf in Masuren auf. In seinem Notizbuch steht für diesen 21. Januar der knappe Eintrag: »Befehl zum Verlassen meines Hofes«. Ungelenk formulierend, kündigt der Bauer in diesem Moment den Generationenvertrag mit seinen Vorfahren. Er muss alles zurück- lassen, was gestern noch wichtig war. Auch die Tiere. »Unsere Hündin ›Senta‹ hat uns ein Stück Weges begleitet. Je weiter wir uns vom Dorf entfernten, wurde sie immer unsicherer. Sie ist dann schließlich auf unser Anraten wieder nach Haus gelaufen.« Wochenlang finden sich dann keine Einträge im Notizbuch, weil die Anstrengungen einer Flucht alle Kräfte abverlangen. Die Aufzeichnungen setzen erst im März 1945 wieder ein, als Friedrich Biella nach einer wochenlangen Odyssee im Herzogtum Lauenburg strandet. Täglich fragt er bei der dortigen britischen Militärkommandantur nach, wann er zurück kehren kann. Immer wieder vertrösten sie den alten Mann. In seinem
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