Leseprobe
132 Notizbuch verzeichnet er ihre stets gleichlautende Antwort »Mit der Rückfahrt noch warten«. Sein Leben in der Britischen Zone, zwangs einquartiert bei fremden Menschen, erträgt der einstige Bauer nur schwer. Als Friedrich Biella kurz darauf erfährt, dass eine Rückkehr in seine masurische Heimat unmöglich ist, stirbt er ein Jahr später, mit 73 Jahren, an Heimweh. 3 Manche Vertriebene kommen nie an, leben in der inneren Emigration und trauern um ihre verlorene Heimat. Nach 1945 fehlt insbesondere alten Menschen – gleich Friedrich Biella – die Kraft zu einem Neuanfang. Viele von ihnen können den Heimatverlust nicht verkraften und zerbrechen regelrecht daran, seelisch und körperlich. Heimweh als Todesursache, davon erzählt Christa Wolf: »Für die Alten – für die, die seit Jahren vom Tod gebrabbelt hatten, um den Widerspruch der Jüngeren zu hören – wurde es Zeit, zu schweigen; denn was jetzt vor sich ging, das war ihr Tod, sie wußten es gleich, sie alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben.« 4 Auf den Friedhöfen in Deutsch- land künden Grabinschriften von dieser Sehnsucht: die Heimatorte der Verstorbenen – Stettin, Schwerin an der Warthe, Königsberg, Reichenberg, Breslau – unterstreichen in Stein gemeißelt ihre irdi- sche Heimatlosigkeit. Das Jahr 1945 sieht den größten Flüchtlingsstrom in Europa seit Menschengedenken. Ein Kontinent liegt in Trümmern, ausgelöst durch Hitlers Krieg, der die Barbarei zur Staatsräson erhoben hatte. Die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen erschüttern Europa in seinen Grundfesten. Seit Kriegsbeginn gehören Vertreibun- gen zum Alltag: Polen und Juden werden bereits ab September 1939 aus den von Deutschen besetzten Gebieten vertrieben, willkürliche Umsiedlungen ethnisch unerwünschter Gruppen sind an der Tages- ordnung. Emigration und Exil von politisch und rassistisch Verfolgten erlangen seit 1933 traurige Realität. 1945 bricht sich die Erkenntnis Bahn: Konventionelle Kriege, die einst regional verortet werden konnten, während andere sich fernab in Sicherheit wiegen können: diese überkommene Gewissheit war mit dem Zweiten Weltkrieg außer Kraft gesetzt. Vertreibungen unerwünschter ethnischer oder religiöser Grup- pen waren allerdings bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg ein verbreitetes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Das 20. Jahr- hundert gilt als Höhepunkt von Zwangsumsiedlungen, als politische und demografische Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden sollten. Dabei fungiert der Erste Weltkrieg als Generalprobe für die folgenden Bevölkerungsverschiebungen. Nach 1918 sehen auch demokratische Staaten in der ethnischen Entflechtung ein Kon- fliktlösungsmittel. Nach dem Abkommen von Lausanne 1923 führt der griechisch-türkische »Bevölkerungsaustausch« das kleine Friedrich Biella
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