Leseprobe
133 Griechenland mit einem Anteil von mehr als einem Viertel Vertriebe- ner an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Auch die Sowjetunion perfektioniert ethnische Säuberungen in ganz eigener Weise, indem Stalin Deportationen ganzer ethnischer Gruppen – unter ihnen vor allem Polen, Deutsche, Finnen, Balten, Koreaner – als kollektive Bestrafung umsetzt. Der nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg schafft jedoch eine völlig neue Dimension von Vertreibungen. Seit Kriegsbeginn sind sie in nie gekanntem Ausmaß an der Tagesord- nung. Das Szenario in Mittel- und Osteuropa verdeutlicht diese Lang- zeitkonsequenz der NS-Rassenpolitik. Millionenfaches Sterben und industrieller Massenmord zerstören die Lebensgrundlagen eines gesamten Kontinents. Die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten für den Zeitraum des Zweiten Weltkriegs wird auf 50 bis 60 Millionen Menschen geschätzt, was zehn Prozent der europäi- schen Bevölkerung entsprach. Hinzu kommen noch einmal bis zu 25 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene nach Kriegsende – die wohl größte Bevölkerungsverschiebung der europäischen Geschichte. Der Zweite Weltkrieg versetzt ganz Europa in Bewegung. Millionen Men- schen unterschiedlicher Herkunft sind unterwegs: Soldaten, Kriegs- gefangene, Emigranten, Zivilisten, Evakuierte, Deportierte, Zwangs- verschleppte, Umsiedler, Flüchtlinge, Vertriebene. Karl Schlögel und Götz Aly sprechen von einem »Verschiebebahnhof Europa« in der ersten Jahrhunderthälfte. 5 »Aus einem Verschiebebahnhof unter Kriegsbedingungen wurde Europa nach 1945 zu einem Verschiebe- bahnhof in Abwesenheit des Krieges«, so der Historiker Mathias Beer, aber »unter den Voraussetzungen seiner Hinterlassenschaften – heute Grenzziehungen, Zerstörung, Entwurzelung, Tod«. 6 »Ordnungsgemäße Überführung« nennt das Potsdamer Abkommen die Verschiebung von Millionen Deutschen aus der Mitte Europas. Churchill (später ersetzt durch Attlee), Stalin und Truman einigen sich am 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof auf eine Neu- ordnung der mitteleuropäischen Landkarte. Ziel ihrer Nachkriegs planungen ist es, eine weitgehende ethnische Homogenisierung zu erreichen. Zu diesem Zweck sollen die Deutschen im östlichen Europa verschwinden. Churchill fordert bereits am 15. Dezember 1944 in einer Rede im britischen Unterhaus die Vertreibung der Deut- schen, denn sie sei das »befriedigendste und dauerhafteste Mittel«, es müsse »reiner Tisch« gemacht werden. Der Schriftsteller George Orwell als linker Mahner entgegnet auf diese Pläne seines Landes: »Das entspricht der Umsiedlung der gesamten Bevölkerung Austra liens oder von Schottland und Irland zusammen. [...] Ich nehme an, [...], dass dieses gewaltige Verbrechen gar nicht durchgeführt werden kann, obwohl man es in Gang setzen könnte, wobei Unordnung, Leid und unversöhnlicher Hass entstehen würden. Bis dahin sollte man dem britischen Volk mit so vielen konkreten Einzelheiten wie möglich klarmachen, für welche Maßnahmen ihm seine Staatsmänner die Verantwortung aufbürden.« 7
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