Leseprobe
53 Johann Friedrich Städel hat in seiner Sammlung etwa 1 300 Zeichnungen von italienischen Künst- lern zusammengetragen – im Umfang stand dieser Bereich nur hinter der niederländischen Schule zurück (Kat. 65–95). Die Gründe für diese Wertschätzung waren vielfältig. Mit Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Tizian oder Correggio hatte die Kunst Italiens – so hatte es Giorgio Vasari in seinen einflussreichen Künstlerbiografien dargestellt (1550, 1568) – nicht nur einen Höhepunkt, sondern auch eine vorbildhafte Bedeutung erreicht. Von dieser Künstlergeneration wurde ein Bildverständnis geprägt, das in Europa auch im 18. Jahrhundert noch gültig war. Als ein Ausblick in die Wirklichkeit sollte das Bild den handelnden Menschen im Raum zeigen; die bevorzugte Gattung für religiöse und säkulare Themen wurde das Historienbild. Perspektivische Raumprojektion, Anatomie oder Ausdruckslehre, um nur diese Aspekte zu nennen, wurden in ganz Europa für die bildende Kunst verbindlich. Vasari hatte kunstgeschichtliche Zusammenhänge exemplarisch als eine Abfolge von individuellen Biografien beschrieben, und er hatte für die Art, wie das Historienbild heranreifen sollte, mit dem Begriff des disegno (Zeichnung) eine theoretische wie praktische Orientierung gegeben. Disegno bedeutete die Bildfindung in der Imagination, die zeichnerische Praxis des Entwerfens, aber auch das fertige Resultat, die Zeichnung in den verschiedenen Stufen ihrer Ausarbeitung. Von dieser Orientierung war die Wahrnehmung der Kunst Italiens bis in das 18. Jahrhundert geprägt. Ihre Vorbildlichkeit zeigt sich auch daran, dass anfänglich vor allem Künstler, dann vermehrt Mitglieder des Adels und des Bürgertums Bildungsreisen in den Süden unternahmen; für Frankfurt lässt sich das Beispiel der Italienreise von Goethes Vater Johann Caspar Goethe (1710–1782) in den Jahren 1740/41 nennen. In Frankreich wurden von Pierre Crozat und später Pierre Jean Mariette die Kriterien verfeinert, nach denen italienische Zeichnungen gesammelt oder angeordnet werden sollten – ein Modell, das ohne Weiteres auf andere künstlerische Schulen Europas übertragen werden konnte. Ein Leitgedanke bestand darin, nicht nach den eigenen ästhetischen Prinzipien, sondern unparteiisch auszuwählen. Die künstlerischen Schulen der Residenzen und Städte – Florenz/Siena, Rom, die Lombardei mit Mailand, Mantua und Parma, Venedig, Genua, Neapel – sollten von der Renaissance bis in die eigene Gegenwart beispielhaft vertreten sein. Johann Friedrich Städel hat sich diesen Ansatz offenbar zu eigen gemacht, ohne ihn jedoch – eine Folge des Angebots auf dem Kunstmarkt – in allen Belangen realisieren zu können. War das 15. Jahrhundert bei Städel nur punktuell vertreten (s. Kat. 1; Abb. 3, 99), gehörten zu seiner Sammlung mit Michelangelo (Kat. 2), Raffael (Kat. 3), Correggio (Kat. 4), vielleicht auch Tizan (Abb. 103) prägende Meister der Renaissance. Aufmerksamkeit fanden ebenso Künstler aus ihrer Nachfolge (Kat. 7, 10, 12) und die Ausbreitung italienischer Kunst im Norden Europas (Kat. 8). Einen bemerkenswerten Schwerpunkt bildete die Kunst in Genua (Kat. 11) und des ausgehenden 16. Jahrhunderts in Siena (Kat. 16–17); vermutlich waren Zeichnungen von Künstlern aus diesen Städ- ten im Handel leicht erreichbar. Für das 17. Jahrhundert konnte Städel größere Komplexe mit Zeich- nungen der Künstlerfamilie Carracci (Kat. 13–15) vereinen, die in Bologna und Rom eine klassizistische Neuausrichtung initiierten; auffallend war auch ein umfangreiches Konvolut unter dem Namen von Guercino (Kat. 20). Die künstlerischen Strömungen Bolognas bis in das 18. Jahrhundert fanden Berücksichtigung (Kat. 18, 24), allerdings waren auch der in Neapel arbeitende Salvator Rosa (Kat. 22), Stefano della Bella aus Florenz (Kat. 21) oder der Venezianer Piazzetta (Kat. 25) präsent. Mit Bühnen- bildentwürfen, die Giorgio Fuentes aus Mailand um 1800 für das Frankfurter Theater geschaffen hatte (Kat. 26), erreichte die Sammlung schließlich die unmittelbare Gegenwart Städels. ITALIENISCHE ZEICHNUNGEN
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