Leseprobe

56 Italienische Zeichnungen In den zuerst 1550 erschienenen Künstler- biografien von Giorgio Vasari bilden drei große Meister des 16. Jahrhunderts den Höhepunkt der italienischen Kunstgeschichte seit Giotto – Leonardo da Vinci, Michelan- gelo und Raffael. Trotz einer Konzentration auf Florenz hatte Vasari damit die Kunst Italiens schlüssig gegliedert. Die Errungen- schaften der drei Meister erhielten eine Vorbildhaftigkeit, die unangefochten bis über das 18. Jahrhundert hinaus gültig blieb. War eine Anschauung der seltenen Werke Leonardos anhand von druckgrafischen Reproduktionen zu gewinnen, nahmen Michelangelo und Raffael nicht zuletzt auf- grund der Zugänglichkeit ihrer Arbeiten eine kanonische Stellung ein. Dies galt auch für ihre Zeichnungen. Zwar hatte sich Pierre Jean Mariette intensiv mit den Karikaturen Leonardos beschäftigt (s. Kat. 9), als die größten Zeichner der Epoche – les deux plus grands dessinateurs – aber betrachtete er die beiden anderen Meister. 1 Vor diesem Hintergrund ist es verständ- lich, dass Johann Friedrich Städel die drei Künstler in seiner Sammlung repräsentativ vertreten sehen wollte. Freilich gelang es ihm nicht, durchgehend eigenhändige Arbei- ten zu erwerben. 2 Die Zeichnungsgruppe, die er unter dem Namen Michelangelos, dieses bedeutenden Bildhauers, Malers und Architekten, zusammengebracht hat, war heterogen. Es gehörten dazu ein großes Blatt mit grotesken Köpfen und Beinstudien (Abb. 32), mehrere Kopien, aber auch Stu- dien, für die sich eine andere Autorschaft – unter anderem des Florentiner Künstlers Rosso Fiorentino (1494–1540) – ergeben hat (Abb. 36). Die Zeichnung des Auferstandenen Christus galt Städel sicherlich als eigenhän- dig – um 1860 wurde sie aber als Kopie ein- gestuft, vermutlich von Johann David Passa- vant, der die Vorlage, ein Blatt im British Museum, London, wahrscheinlich aus eige- ner Anschauung kannte. 3 Die Londoner Zeichnung ist in Format und Technik genau wiedergegeben, daher sind auf dem Frank­ furter Blatt strichgenau auch die Korrektu- ren Michelangelos, sogenannte pentimenti , mit übernommen (eine Ausnahme bildet der Kopf Christi, den Michelangelo anfangs niedriger angesetzt hatte). Michelangelos ausgereifte Zeichentechnik mit schwarzer Kreide ist nachgeahmt, in den einzelnen Strichen aber zusätzlich weiter verdichtet und stellenweise schimmernd verrieben. Die bei Michelangelo körnig bleibende Modellierung, die dem muskulösen Körper eine gleichsam atmende Lebendigkeit ver- leiht, ist zu einer geschlossen wirkenden Oberfläche verändert. 4 Michelangelo hat Christus in einer federnden Haltung dargestellt. Dabei ent- steht eine Spannung zwischen der aufstre- benden Bewegung von der Grablege nach oben und einer Orientierung nach unten, wie sie die ausgestreckte rechte Hand und der nach unten gerichtete Blick vermitteln. Johannes Wilde hat die Londoner Studie und weitere Zeichnungen mit dem Projekt einer Auferstehung Christi in Zusammen- hang gebracht und eine Datierung um 1532/1534 erschlossen. Die genauen Um­ stände des Vorhabens sind aber ungeklärt. 5 2 Michelangelo Buonarroti (Caprese 1475 –1564 Rom), Kopie Der auferstandene Christus, 1570/1600 Schwarze Kreide, 375×251 mm; allseitige Einfassungslinie mit schwarzem Stift (Kreide ?) Wasserzeichen: Dreiberg im Kreis (ø 41 mm) unter sechszackigem Stern, Bindedraht als Mittelachse, Stegabstände (vertikal) |32|30|29|32|32|33| (vgl. Briquet 11932, Rom und Fabriano, um 1578/1590) Auf dem Verso in der Mitte beschriftet mit schwarzem Stift » ⨳ 2«, unten links in der Ecke Stempel des Städelschen Kunstinstituts (L. 2356) mit der dazugehörigen Inventar­ nummer 3976 (Bleistift) PROVENIENZ Johann Friedrich Städel (1728–1816), Frankfurt am Main (sammlungsgeschichtlich erschlossen, s. Anhang/Dok.) Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main, Stiftung 1816, Inventar 1862, als Copie nach M. A. Buonarotti, Inv. 3976 Abb. 36 Rosso Fiorentino, zugeschrieben, Studien von Beinen, Knien und Armen , um 1520(?), Rote Kreide, unten am Rand Probelinien in schwarzem Stift (Kreide?), punktuell Spuren von Kohle (?), 381×259 mm (Inv. 3971v)

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