Leseprobe
107 FRANZÖSISCHE ZEICHNUNGEN Mit etwa 450 Arbeiten bildeten die Zeichnungen von französischen Künstlern in der Sammlung von Johann Friedrich Städel gegenüber Werken niederländischer und italienischer Meister eine nur kleinere, überschaubare Gruppe. Davon sind etwa achtzig Werke – wie nach der rückseitigen Markie- rung rekonstruiert werden kann – durch die Hände des Kunsthändlers Guillaume Jean Constantin (1755–1816) gegangen, der sein Geschäft von Paris aus betrieb. Vermutlich ist aber eine wesentlich größere Anzahl französischer Arbeiten aus dieser Quelle nach Frankfurt gekommen. Es ist ungeklärt, ob Städel sie direkt von Constantin oder über einen zwischen Paris und Deutschland vermittelnden Agenten erworben hat. Aber diesem Zugang zum französischen Kunstmarkt ist wohl zuzuschreiben, dass Städel in seiner Sammlung besonders herausragende Beispiele französischer Zeichenkunst vor allem des 18. Jahrhunderts vereinen konnte. Im Sinne eines chronologischen Überblicks setzte die Sammlung mit dem frühen 17. Jahrhundert ein (Kat. 27–28) und dokumentierte die kunsthistorische Entwicklung bis in die unmittelbare Gegen- wart Städels, bis in das auslaufende 18. Jahrhundert. Das 16. Jahrhundert war dagegen kaum vertre- ten. Der Grund hierfür ist zum einen darin zu sehen, dass einflussreiche Künstler, die in dieser Epoche in Frankreich wirkten, aus Italien stammten und ihre Werke – nach dem klassifikatorischen Vorbild von Pierre Jean Mariette – der italienischen Schule zugeordnet waren, zum anderen strittige Fragen der Autorschaft tendenziell zugunsten italienischer Künstler entschieden wurden. Zu nennen sind eine brillante Studie von Primaticcio für die Galerie in Fontainebleau (Kat. 8), ein Entwurf aus der Zeit um 1580 von Antoine Caron (1521–1599), für die bei Städel die überlieferte Zuschreibung an Nicolò dell’Abate (um 1510–1571) gültig gewesen sein wird (Abb. 42), oder eine Arbeit von Jacques Bellange (um 1575–1616), die unter dem Namen von Francesco Salviati (1510–1563) eingeordnet war (Inv. 4360). Die prägenden Künstler des 17. Jahrhunderts – Vouet (Kat. 28), Poussin, Claude Lorrain (Kat. 29), Lebrun – waren zum Teil mit zahlreichen Werken präsent. Nach den Verkäufen in der Zeit zwischen 1860 und 1867 und einer gewandelten Beurteilung der Autorschaft sind diese Konvolute auf nur noch wenige Beispiele reduziert. Die nachfolgende, einem klassischen Barock verpflichtete Generation mit Bourdon (Kat. 30), de La Hyre, Le Sueur, Boullogne, Coypel oder Jouvenet leitete bereits in das 18. Jahrhundert über. Auffälligerweise waren mit Raymond Lafage (Abb. 64) und Antoine Rivalz (Abb. 62) zwei Künstler mit größeren Werkgruppen vertreten, die außerhalb von Paris in Toulouse wirkten. Der Erwerb dieser Blätter erklärt sich vielleicht aus dem Angebot, das Constantin aus Paris zugänglich machen konnte. Aus dem 18. Jahrhundert stammten Zeichnungen höchster künstlerischer Vollendung und Bedeu- tung von Rigaud (Kat. 31), Watteau (Kat. 32), Fragonard (Kat. 36), Boucher (Kat. 34) oder Greuze (Kat. 37), in denen sich die stilistischen Umbrüche – galantes Rokoko, klassische Tendenzen, moralisie- rende Sentimentalität – bis hin zum neoklassischen Heroismus (Kat. 39; Abb. 20, 23, 73) der Revolu tionszeit abzeichneten. Ein eigenes Konvolut bildeten die Zeichnungen, zumeist Landschaften, von Jean-Jacques de Boissieu (Kat. 38), einem Zeitgenossen von Städel, dessen Zeichnungen – und dessen Druckgrafik – offenbar Städels besondere Aufmerksamkeit galt. Mit diesem Schwerpunkt besaß die Landschaft als Sujet – ähnlich wie bei den niederländischen Zeichnungen – eine hervorgehobene Stel- lung, daneben waren aber auch historische Themen (Kat. 39), Genredarstellungen (Kat. 37) und Bild- nisse (Kat. 31; Abb. 31, 65) repräsentativ vertreten. Die verschiedenen Stilformen und thematischen Ansätze wurden technisch in ganz unterschiedlichen Medien realisiert. Unter den Beispielen für die im 18. Jahrhundert wegen ihrer Luminosität und Leichtigkeit besonders geschätzten roten Kreide (Kat. 32; Abb. 67, 71) waren auch einige Zeichnungen von Bildhauern (Kat. 3), die in der Sammlung Städels jedoch eine Ausnahme bildeten.
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