Leseprobe
146 Deutsche Zeichnungen Pinsel in Schwarz und Weiß, hellgrau laviert, auf rotbraun grundiertem Papier, 301× 139 mm; allseitige Einfassungslinie mit der Feder in Schwarz, ganzflächig aufgelegt Wasserzeichen: Zweikonturige Bügelkrone, mit Perlen, darüber zweikonturiges Kreuz, Bindedraht als Mittelachse, Stegabstände (vertikal) |29|31|30|30| Bezeichnet unten am Rand mit dem Pinsel in Deckweiß »HBG [ligiert] | 1520« Auf der Rückseite (auf dem Auflagekarton) oben am Rand beschriftet mit Bleistift (gegen- über der Vorderseite um 180° gedreht) »Hans Baldung Grün«, 1 unten in der Mitte Stempel des Städelschen Kunstinstituts (L. 2356) mit der dazugehörigen Inventarnummer 649 (Bleistift) PROVENIENZ 2 Johann Friedrich Städel (1728–1816), Frankfurt am Main (sammlungsgeschichtlich erschlossen, s. Anhang/Dok.) Städelsches Kunstinstitut, Stiftung 1816, Inventar 1862, als H. B. Grün, Inv. 649 45 Hans Baldung Grien (Schwäbisch Gmünd 1484/85 –1545 Straßburg) Lucretia, mit der Rechten den Dolch in die Brust stoßend, 1520 Nachts überfallen, wird die Römerin Lucre- tia von dem Königssohn Sextus Tarquinius zum Beischlaf erpresst, indem er ihr an droht, sie zu töten und entwürdigend mit einem ermordeten Sklaven ins Bett zu legen. Auf diese Weise entehrt, nimmt Lucretia sich vor den Augen ihres Vaters und ihres Ehemanns das Leben (Livius, Ab urbe con- dita , I, 58). Ihr Handeln wurde als Inbegriff von unbeugsamer Tugend und ehelicher Treue gesehen. Baldung verzichtete auf jede erzählerische Ausschmückung. In der stren- gen Frontalität der Darstellung nutzte er eine Bildformel, die der Zurschaustellung des leidenden Christus ( imago pietatis ), aber auch – wie bei Leonardo da Vinci – der sinnlichen, auch sexuell anzüglichen Präsen- tation des weiblichen Körpers diente. 3 Der seelische Konflikt Lucretias spiegelt sich in ihren schmerzvollen Gesichtszügen und aufgewühlt flatternden Haaren. 4 Wie in einer Gegenbewegung zur Hand, die den Dolch in die Brust sticht, zieht Lucretia in einer anrührenden Geste ihr Gewand beseite, Baldung gibt anklagend den Blick frei auf den geschändeten, nur scheinbar unversehrten Körper. Mit der Selbsttötung wird alle Schönheit vergehen, aus Selbstach- tung aber konnte Lucretia nur diese Konse- quenz ziehen. Über einer rotbraunen, unru- hig gestimmten Grundierung als Mittelton erhält Lucretias Körper im Wechsel zwi- schen den weißen und dunklen Linien eine metallisch wirkende Tonalität und eine gleichsam entrückte Sinnlichkeit. 5 Das sicherlich als autonome, technisch brillante Pinselzeichnung konzipierte Blatt wird für einen gebildeten Abnehmer ent- standen sein, dem das antike Thema auch in der Verknappung nur auf Lucretia unmittel- bar verständlich war. Die Zeichnung ent- stand 1520, wenige Jahre, nachdem Baldung aus Freiburg im Breisgau, wo er den bedeu- tenden Auftrag für den Hauptaltar der Münsterkirche übernommen hatte, nach Straßburg zurückgekehrt war und sich dort als Künstler endgültig etabliert hatte. Wann der enge Zuschnitt des Blattes knapp ent- lang der Darstellung vorgenommen wurde (vielleicht als Konsequenz einer Beschädi- gung?), ist nicht mehr festzustellen. Mit Baldung, der sich nach den bei Dürer in Nürnberg verbrachten Jahren (s. Kat. 43) 1509 in Straßburg niedergelassen hatte, war in Städels Sammlung einer der einfluss- reichsten Künstler der deutschen Renais- sance am Oberrhein vertreten; die wegwei- sende Kunst Martin Schongauers war nur indirekt präsent (Abb. 75), das künstleri- sche Profil von Matthias Grünewald war zu Lebzeiten Städels so gut wie unbekannt. Eine weitere Arbeit aus der Nachfolge Bal- dungs galt bei Städel als Werk des Augsbur- gers Meisters Hans Burgkmair (Abb. 80). Auch für eine andere stilistische Orientie- rung dieser Epoche, die bis nach Wien aus- strahlende sogenannte Donauschule, hatte sich im 18. Jahrhundert noch kein festste- hender Begriff herausgebildet. Eine hierher gehörende Kopie nach Albrecht Altdorfer (1482/1485–1538) oder Wolf Huber (um 1485–1553) war bei Städel einem unbe- kannten deutschen Künstler zugeordnet (Abb. 79). 6 Abb. 79 Albrecht Altdorfer, Kopie, Kreuzi- gung mit einem Galgen im Hintergrund , 1518(?), Feder in Schwarz, Pinsel in Grau, 223×166 mm (Inv. 646)
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