Leseprobe

18 »Die Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte, einschließlich der Verkündung der Urtheile und Beschlüsse desselben, erfolgt öffentlich.« (§ 170 des Gerichtsverfassungsgesetzes des Deutschen Reichs vom 27. Januar 1877) Blick auf die Ursprünge Besonders an dieser Vorschrift, die heute unverändert in § 169 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) zu finden ist, ist nicht nur ihr Inhalt, son- dern auch ihr Alter: Sie gehört zu den Reichsjustizgesetzen, die am 1. Januar 1879 in Kraft getreten sind und ist noch heute gültig. Zunächst ist sie Ausdruck des Öffent- lichkeitsgrundsatzes und damit des Demokratieprinzips: Das Volk soll Anteil an Gerichtsverhandlungen nehmen kön- nen, wenn auch nur in bestimmter Form, nämlich zum einen durch die sogenannte Saalöffentlichkeit – repräsentiert durch die Personen, die im Gerichtssaal an­ wesend sind – und zum anderen mittels der Berichterstattung der Presse. Jeder Bürger und jede Bürgerin, ganz gleich, ob er oder sie einen Bezug zu dem vor Gericht verhandelten Fall aufweist oder nicht, kann der Verhandlung zuhö- ren. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Wer bei Geheimprozessen lediglich an mittelalterliche Fürsten denkt, die sich als Ankläger und Richter zugleich in ge- heimen Prozessen ihrer Feinde entledig- ten, greift zu kurz. Auch heute noch fin- den sich in bestimmten Staatsformen Verfahren ohne Öffentlichkeit, die mit drakonischen Strafen enden. Um auszuschließen, dass sich die Tätigkeit des Gerichts hinter verschlos- senen Türen abspielt und dadurch Missdeutungen und Argwohn ausgesetzt ist, finden Gerichtsverhandlungen in Deutschland in aller Regel öffentlich statt. In einem Rechtsstaat ist die Trans- parenz von Gerichtsentscheidungen Grundvoraussetzung für die staatliche Willensbildung. Daher dürfen keine Ge- heimprozesse stattfinden, sondern die Öffentlichkeit kann grundsätzlich jedes gerichtliche Verfahren verfolgen, um die Entscheidung nachvollziehen, billi- gen oder kritisieren zu können. Gerichts öffentlichkeit Historie, Wandel, Zukunft Lisa Teske | Volker Messing 1  Der Öffentlichkeitsgrundsatz gilt seit 1879 und findet sich bis heute im Gerichtsverfassungsgesetz.

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