Leseprobe
20 — Lisa Teske | Volker Messing Prozessbeteiligten zur Sprache kom- men, beispielsweise wenn es um Sexual- straftaten geht. Das Gesetz sieht jedoch vor, dass auch in diesen Fällen zumindest die Urteils- verkündung öffentlich stattfindet. Da- durch ist ein Mindestmaß staatlicher Kontrolle gewährleistet. Die Öffentlich- keit hat Gelegenheit, die Entscheidung zu hinterfragen und über das Strafmaß zu diskutieren. Diese Debatte ist rechts- politisch wichtig: Ist die vom Gesetz angedrohte Strafe noch zeitgemäß? Ist der gesetzlich vorgesehene Straf rahmen vom Gericht tat- und schuld angemessen ausgeschöpft worden? Sind die Beweggründe des Täters oder der Täterin und die von ihm oder ihr ver- schuldeten Folgen der Tat ausreichend berücksichtigt worden? Die im Gerichtssaal anwesenden Zu- hörerinnen und Zuhörer sind die Öffent- lichkeit, die sich der Gesetzgeber vor- stellt. Als die Reichsjustizgesetze im ausgehenden 19. Jahrhundert erlassen worden sind, war das klar. Die Foto grafie war zwar schon erfunden, war aber noch in ihren Anfängen und nicht für jedermann verfügbar. Die Presse machten damals vor allem Tageszeitun- gen aus, deren Berichterstattung aus Text und Zeichnungen bestand. Daher stellte sich die Frage nach der Regelung einer mittelbaren Öffentlich- keit, die die Verhandlung zwar mitver- folgt, jedoch nicht im Sitzungsaal anwe- send ist, damals noch nicht. Die dafür erforderlichen Medien, insbesondere der Hörfunk und das Fernsehen, waren noch nicht vorhanden. Die längere Auf- zeichnung einer Gerichtsverhandlung erfolgte erstmals im NS-Staat, als die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof angeklagt wurden. Dass dies jedoch nicht geschah, um den Zielen des Öffentlichkeitsgrund- satzes gerecht zu werden, bedarf keiner weiteren Erläuterung. In gewöhnlichen Gerichtsprozessen spielten Rundfunk- und Fernsehaufnahmen auch im frühen Nachkriegsdeutschland noch keine Rolle. § 169 Satz 2 GVG und die Blütezeit der Gerichtszeichnung Erst in den 1960er Jahren rückte das Thema in den Blick des Gesetzgebers, nachdem Fernsehgeräte für eine brei- tere Masse der Bevölkerung erschwing- lich geworden waren und weite Ver breitung gefunden hatten. Der Bundes- tag sah sich 1964 zu einer Regelung veranlasst und fügte der Vorschrift des § 169 GVG einen zweiten Satz hinzu, mit dem Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ausdrücklich und ohne Ausnahmen für unzulässig erklärt wurden. An dieser Regelung sollte sich dann für gut drei Jahrzehnte nichts ändern. Kameras und Mikrofone konnten ledig- lich vor und nach der Gerichtsver handlung zum Einsatz kommen. Die Möglichkeit, das Verhalten der Prozess- beteiligten im Gerichtssaal für die Leser-, Hörer- und Zuschauerschaft festzuhalten, bestand nur noch mit Worten und mittels Zeichnungen. Das war die Hochphase der Gerichtszeich- ner und -zeichnerinnen in Deutschland, geprägt unter anderem durch den Künstler Erich Dittmann, der die Ange- klagten in den Auschwitzprozessen zeichnete, die in den Jahren von 1963 bis 1968 stattfanden. Der Künstler illustrierte über einen langen Zeitraum in rund 600 Zeichnungen zahlreiche Prozesse mit hoher Bedeutung, insbe- sondere für die deutsche Geschichte. Hervorzuheben sind seine Zeichnungen zum sogenannten Stammheimprozess gegen Mitglieder der linksextremisti- schen Terrororganisation »Rote Armee Fraktion«. 3 Der Frankfurter Gerichtszeichner Erich Dittmann (1916–1999) in seinem Atelier
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