Leseprobe
11 oder als kleiner Biedermeierkavalier im Festzug mitmarschieren durfte, dem der Vater als indischer Maharadschah auf einem vom Zoo ausgeliehe- nen Kamel voranritt. Im Übrigen lebten wir damals, Anfang der dreißiger Jahre in Ober- gohlis noch recht geruhsam. Von den politischen Turbulenzen nahm ich als sechsjähriges Kind überhaupt nichts wahr. Das Haus, in dem wir zur Miete wohnten, gehörte einemWohnungsbauverein, welcher um 1910 seine neuen Häuserblöcke auf billigem Bauland am Stadtrand errichtet hatte. Und tat- sächlich begann hinter der Planitzstraße, zweihundert Meter von unserem Wohnhaus entfernt, schon das freie Feld. Gegenüber unserer Häuserzeile lag hinter hohen Mauern ein Kaser- nenareal aus gelben Backsteinen, das bis zur Wiedereinführung der allge- meinen Wehrpflicht 1936 leer stand. Auf der basaltgepflasterten Straße rat- terte ab und zu ein Pferdefuhrwerk, seltener ein Automobil vorüber. Die fünf gleichartigen Häuser dieses Bauvereins waren rückseitig durch einen mit Ziegeln gepflasterten Hof verbunden, welcher der fröhlichen Kommu- nikation der hier lebenden Kinder zustattenkam. Auch ein Spielgarten mit Sandkasten gehörte zu der familienfreundlichen Anlage. So lebten wir trotz städtischer Miethausblockstruktur in behüteter Abgeschlossenheit und ver- gnügten uns mit den harmlosen Freuden, die der Kreislauf des Jahres bot; im Frühling sammelten wir Maikäfer in Zigarrenkistchen, im Herbst die braun glänzenden Kastanien. An heißen Sommertagen liefen wir barfuß eine Stunde bis zumWackerbad und imWinter mit unseren Rodelschlitten zum Scherbelberg im nahen Stadtwäldchen Rosental, der einzigen nen- nenswerten Bodenerhebung im Stadtgebiet. Der hätte eigentlich »Scher- benberg« heißen müssen, denn die Leipziger hatten ihn aus ihren Abfällen aufgeschüttet und begrünt. Alljährlich Anfang Oktober gab es für die Kinder ein besonderes Fest, den sogenannten »Tauchscher«. Das war so etwas wie Kinderfasching, nur ein wenig martialischer. Der Name hing auf uns unbekannte Weise mit dem Städtchen Taucha nordöstlich von Leipzig zusammen. In Gohlis herrschte dann Ausnahmezustand. Wir Jungen zogen als kakao-getönte Indianer oder von Old Shatterhand inspirierte Trapper in Horden durch die Straßen, knall- ten mit unseren blechernen Zündhütchenrevolvern und erschreckten die Mädchen mit Knallerbsen. Waren wir dann durch Bandenkämpfe und Ver- folgungsjagden hungrig, erbettelten wir uns beim Fleischer Otto eine Hand- voll Wurstzipfel oder beim Bäcker Kiel eine Tüte Kuchenränder. Obwohl es mir trotz der bescheidenen familiären Verhältnisse an Nah- rung, Kleidung und Frischluft durchaus nicht fehlte, war ich immer recht mager und blaß. Luftwechsel, meinte der alte Hausarzt Doktor Rüts, würde mir guttun. Und so schickte man mich mehrmals zwecks Gewichtszunahme und Stabilisierung meines physischen Zustands in Kindererholungsheime; einmal in die sächsische Oberlausitz, ein andermal bei strengem Winter- frost auf die ferne Insel Norderney und später, als ich schon zur Schule ging, in das Ostseebad Graal-Müritz. Den stärksten Eindruck hinterließ indessen ein Landaufenthalt in einem vogtländischen Dorf namens Hammerbrücke,
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