Leseprobe

78 Ein Neuer Anfang Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Hermann Hesse, Stufen Kunsthistorisches Institut Mühsam begann ich, die ganz unbeholfene linke Hand zu gebrauchen. Mit dieser Linken allein musste ich mein künftiges Leben aufbauen und meistern. Sobald ich wieder laufen konnte, betrieb ich beim Rektorat der Kunsthoch- schule und beimDekan der Philosophischen Fakultät der Universität meinen Hochschulwechsel und fand überall Verständnis für meinen Wunsch. Es muss im April oder Mai 1955 gewesen sein, als ich von Professor Heinz Ladendorf, dem Ordinarius und Direktor des Kunsthistorischen Ins- tituts in Leipzig, zu einem Eignungsgespräch gebeten wurde. Zwar hatte ich mir einige kunstgeschichtliche Grundkenntnisse angelesen, betrat aber doch mit klopfendemHerzen die weite Treppenhalle der ehrwürdigen alten Universität am Karl-Marx-Platz. Die Bomben hatten 1943 den schönen, spätklassizistischen Bau stark beschädigt, jedoch nicht zerstört. Ulbricht würde ihn samt der gotischen Universitätskirche später sprengen, um dort dafür »sozialistische Großbauten« aufrichten zu lassen. Die Räume des Kunsthistorischen Instituts lagen im ersten Stock. Ladendorfs Zimmer befand sich am Ende eines langen Ganges, der bis zur Decke mit Büchern vollgestellt war. Quer stehende Regale teilten ihn in Kabinette, in denen Arbeitstische für Studenten standen. Ladendorf, ein langer, schlanker Mensch leptosomen Typs, begrüßte mich stehend und reichte mir seine linke Hand, da ich ihmmeine Linke hinge- streckt hatte. Ich registrierte solch aufmerksames Eingehen auf meinen einge- schränkten Zustand mit Verwunderung. Er hatte offenbar einen Augenfehler und schien mit seinem leichten Silberblick immer ein wenig an mir vorbeizu- schauen. Im Gespräch gab er sich kühl distanziert und stellte mir einige Wis- senstestfragen. Später erfuhr ich, dass man mich an dem damals noch bürger- lich-konservativ geprägten Institut für einen »Roten« hielt, vielleicht, weil ich von der als marxistisch dominiert geltenden Hochschule für Grafik und Buch- kunst kam. Dennoch war Ladendorf bereit, mich unter Anrechnung der dorti- gen Studienjahre sogleich ins dritte Semester aufzunehmen. Bedingung aber war die Auflage, gleichzeitig einen Sprachkurs in Latein zu belegen. Ohne La- tinum ließ er niemanden zum Staatsexamen zu. Auch wurde von mir erwartet, dass ich neben Englisch und Russisch eine dritte Fremdsprache erlerne. Bevor ich jedoch mein neues Studium beginnen konnte, war noch manches für meine nun ganz veränderte Lebenslage Wichtiges zu ordnen.

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