Leseprobe
79 In der Gohliser Wohnung meiner Mutter gab es ein kleines Zimmer, das ich nach meiner Entlassung aus der Klinik beziehen konnte. So lebten wir nun wieder zusammen, und meine hochbetagte Mutter wusch und kochte für mich wie in alten Zeiten. Der von den Umständen erzwungene Wechsel meiner Studienrich- tung vom Bilden zum Schreiben fiel mir nicht allzu schwer, da ich von frü- her Jugend an stets geschwankt hatte, welcher meiner Anlagen ich folgen sollte. Nun waren die Weichen gestellt, und ich ging mit Begeisterung für das bewusst gewählte Fach an die Arbeit. Freilich war es durchaus ungewiss, wie lange der Zustand relativer gesundheitlicher Stabilität diesmal vorhal- ten würde. Die Ärzte hatten es an Mahnungen zur Schonung und zu vor- sichtigem Umgang mit meiner fragilen Kondition nicht fehlen lassen. So musste ich stets sofort nach den Lehrveranstaltungen nach Hause fahren und mich hinlegen. Da blieb kein Freiraum fürs Hospitieren bei anderen Fächern und Fakultäten, wenngleich ich das brennend gern getan hätte. Konnte man doch noch während der fünfziger Jahre an der Alma Mater Lipsiensis bedeutende Gelehrte wie den Germanisten Hans Mayer, den Phi- losophen Ernst Bloch, den Romanisten Werner Krauss und den Historiker Walter Markov erleben, die den Mut hatten, sich nicht der Parteidoktrin der SED zu unterwerfen. Den Besuch ihrer Vorlesungen musste ich mir verbieten. Auch blieben weder Zeit noch Kraft für die Teilnahme an studentischer Geselligkeit und Kontaktpflege mit den Kommilitonen und den jungen Damen, die alle viel jünger waren als ich. Für mich war es eine Existenzfrage, dass ich mich »vernünftig« verhielt, um zu überleben und mein Hauptziel, den Studien- abschluss, zu erreichen. Alles andere war zweitrangig. Das Leipziger Kunsthistorische Institut hat eine lange, ruhmvolle Ge- schichte. Gelehrte von Weltrang wie Anton Springer, August Schmarsow, Theodor Hetzer, Wilhelm Pinder und Hermann Beenken hatten hier ge- lehrt, und etwas vom Geist dieser großen Denker war damals immer noch lebendig. Den Professoren Ladendorf und Jahn gelang es noch einige Zeit, das traditionelle Niveau des Instituts aufrecht zu erhalten und vor den ideo- logischen Gleichschaltungsversuchen der kommunistischen Hochschulpo- litik zu bewahren. Die Vorlesungen fanden im großen Hörsaal 11 statt. Wenn Ladendorf, der eloquente Synthetiker, in seinem dunkelblauen Anzug erschien – es war jahrelang stets derselbe – und über italienische Barockarchitektur las, war das Auditorium meist brechend voll. Seine durch eingeschobene Relativ- konstruktionen oft ellenlangen Sätze kamen erstaunlicherweise am Ende stets zum korrekten Schluss. Seine mit termini technici gespickten Wort- kaskaden, seine großen Gedankenbögen waren beeindruckend, ließen aber den Anfänger im verdunkelten Hörsaal mitunter ziemlich rat- und mutlos zurück. An Mitschreiben war da für mich ohnehin nicht zu denken. So wurde mir bald die auf nüchterner Faktendarbietung beruhende Methode des Professors Johannes Jahn sympathisch, zumal sie durch ein gepflegtes Deutsch vermittelt wurde. Von ihm lernte ich ganz nebenbei den verant- wortlichen Umgang mit der Sprache. Er lehrte uns, ohne esoterisches Wort- geklingel und unter Verzicht auf einen hochgestochenen, fremdwörterge- spickten Fachjargon Wesentliches allgemeinverständlich zu sagen.
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