Leseprobe

80 Jahn hatte zwar nicht die Körpergröße Ladendorfs, war aber mit sei- nem damals schon weißen Haar und der fast militärisch aufrechten Haltung eine imponierende Persönlichkeit. Mich beeindruckte die Bedachtsamkeit und Präzision seiner Formulierungen, die Klarheit und Transparenz seiner Gedankengänge, die Universalität seines Wissens, das er jederzeit parat hat- te. Er dachte und redete aus der Fülle seiner humanistischen Bildung her- aus. Seinen »Faust« kannte er wie kein Zweiter, und bei Gelegenheit zitierte er daraus lange Passagen aus demGedächtnis. So etwa die schönen Verse, in denen die tiefe Freude des Gelehrten aufscheint, der in vergangene Zeiten eintaucht: »Da werden Winternächte hold und schön, ein seelig Leben wär- met alle Glieder, und ach – entrollst du erst ein würdig Pergamen, so steigt der ganze Himmel zu dir nieder«. Im Nebenfach hörte ich Archäologie bei Herbert Koch, was allerdings kein gliederwärmendes Vergnügen war. Koch war ein gebrechlicher Greis, der mit hoher, brüchiger, monotoner Stimme sprach. Das klapprige Männ- lein wurde zu Beginn der Vorlesung von seiner rüstigen, viel jüngeren Frau, der sogenannten Köchin, in den Hörsaal geführt und auf das Katheder ge- setzt. Als Koch endlich emeritiert wurde, übernahm sie, jetzt gleichfalls zum Professor ernannt, ihres Mannes Lehrstuhl. Die Köchin war zwar akustisch gut zu verstehen, doch auch ihr Kolleg brachte mir keine wesent- liche Erhellung des schönen Altertums. Frönte sie doch der Unsitte, in einer Vorlesung zahllose Diapositive ohne didaktisches Konzept zu zeigen und dazu eine Flut von Fakten und Daten über uns auszuschütten. Von pädago- gisch kluger Stoffvermittlung hatte die freundliche Walküre keine Ahnung. Was ich mir später an archäologischem Grundwissen aneignete, verdanke ich ausschließlich dem Selbststudium der Literatur. Allerdings besuchte ich nach Möglichkeit die Abende der Evangeli- schen Studentengemeinde. Ihr Pfarrer Dr. Siegfried Schmutzler war ein schlanker, gutaussehender Intellektuellentyp mit Goldrandbrille, welcher der dümmlich-primitiven Atheismuspropaganda der FDJ-Hochschulgrup- pe mit geistiger und argumentativer Überlegenheit begegnen konnte. Er und die Gemeinde hatten mir in meiner schlimmsten Krankheitszeit tat- kräftig geholfen. So hatten sie mich in meiner Not nicht allein finanziell unterstützt, sondern mir auch das für mich überlebenswichtige Streptomycin aus Westberlin besorgt. Ich hatte meinerseits mit Hilfe meiner Zschadraßer Freunde noch vom Krankenbett aus einen Missionierungsabend in der Heilstätte organisiert, den Schmutzler und Hans Grüss mit dem Chor der Studentengemeinde bestritten. Dass der staatliche Kulturleiter dazu die Ge- nehmigung erteilt hatte, grenzte fast an ein Wunder. Nach jedem Studienjahr war während der Sommermonate ein vierwö- chiges Berufspraktikum zu absolvieren. Ich meldete mich für das Lindenau-­ Museum im ostthüringischen Altenburg, dem Hanns-Conon von der Gabe­ lentz vorstand. Der Nazigegner und Retter verfolgter Juden aus altem thüringischem Adelsgeschlecht war eine imponierende Gestalt. Irgendwie hatte er es geschafft, auch unter der Arbeiter- und Bauernmacht im Amt zu bleiben. Er schimpfte täglich über die Dummheit und Borniertheit der ihm vorgesetzten örtlichen Funktionäre, die er in lautstark geführten Telefonge- sprächen abzukanzeln pflegte.

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