Leseprobe

81 Bei diesem leidenschaftlichen Sammler, Kunstmäzen und Museums- mann machte ich im Juli 1956 meine ersten Berufserfahrungen. Die kleine, reizvolle Residenz mit dem herzoglichen Schloss und den malerischen Winkeln war mir sympathisch, und das schön an einem Park gelegene Mu- seum erwies sich als Schatzkammer überraschender Reichtümer. Den Grundstock der Sammlungen bildete die großherzige Stiftung des kunstsin- nigen sächsischen Staatsministers, dessen Namen sie trägt und der hier sei- nen Familienstammsitz hatte: Bernhard von Lindenaus Sammeltätigkeit war gezielt auf bestimmte Gebiete gerichtet gewesen. Da gab es neben einer Kollektion von Gipsabgüssen antiker Bildwerke eine Abteilung griechischer und etruskischer Vasen. Von höchstem Rang aber waren die 120 Gemälde der italienischen Frührenaissance, die dem Altenburger Museum bei den Kennern bis heute Berühmtheit verschaffen. Nach dem vierwöchigen Berufspraktikum wartete eine Reise nach Westdeutschland auf mich. Ich sah ihr mit großer Spannung entgegen, denn es würde meine erste Westreise überhaupt sein. Anlass war eine Besuchs­ einladung der Evangelischen Studentengemeinde Saarbrücken für zwei An- gehörige der Leipziger Patengemeinde. Mit meinem Partner, einem Orien- talistikstudenten, hatte ich eine Reiseroute ausgearbeitet, die uns möglichst viele Kunst- und Bildungserlebnisse ermöglichen sollte. So fuhren wir im Interzonenzug mit vielen Unterbrechungen über Kassel, Marburg, Limburg an der Lahn, Wetzlar, Frankfurt, Mainz und Trier und ließen uns keinen Dom, kein Schloss, kein Museum entgehen. Staunend durchquerten wir die im Glanze des Wirtschaftswunders er- strahlende Bundesrepublik und kamen am Ende völlig erschöpft in Saar- brücken an, wo wir in einem Kloster Quartier bezogen. Mir ist nicht mehr erinnerlich, was wir dort eigentlich getan haben. Nur eins weiß ich noch – dass es mir furchtbar elend ging und dass ich wieder Spuren von Blut ent- deckte, wo keines hingehörte. Ich hatte mir offensichtlich mit dieser Reise zu viel zugemutet. Zauberberg V Auf schnellstem Weg waren wir nach Leipzig zurückgekehrt. Der neue Un- tersuchungsbefund bestätigte meine Befürchtung: Ein frischer Herd hatte sich in der rechten Lunge gebildet. Wieder musste ich mein Studium abbre- chen und mich, wie schon gewohnt, in die horizontale Lage begeben. Den ganzen September wartete ich auf meine Heilstätteneinweisung. Dieser böse Rückfall – es war der vierte – stürzte mich erneut in eine tiefe Depression. Ich sah mich in den Fängen eines zynischen Dämons, der mich immer wieder zu Boden schlug, sobald ich nur den Kopf ein wenig hob. Nach Lage der Dinge schien es für mich nun wirklich das Beste zu sein, alle Versuche, et- was Sinnvolles, Zielgerichtetes zu tun, ganz aufzugeben und den Rest mei- ner Tage imWechsel von Krankheit und Rehabilitation, versorgt mit meiner kleinen Invalidenrente, vorwiegend liegend zuzubringen. Die Leipziger Lenkungszentrale hatte mich diesmal in das Tuberkulose-­ KurheimSchönau eingewiesen. Das befand sich in der sogenannten Sack’schen Villa, einem enteigneten »Kapitalisten-Grundstück« an Leipzigs westlichem

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