Leseprobe
82 Stadtrand, direkt an der Alten Salzstraße des Reiches. Sie lag sehr schön in einem großen, jetzt herbstlich gefärbten Park. Was mich dort erwartete, war ein Schlafsaal mit zehn Betten. Junge Burschen droschen allabendlich bei Ra- diogetöse bis Mitternacht ihren Skat und trieben mich fast zur Verzweiflung. Ärztlicherseits geschah nichts mit mir. Man setzte hier offenbar ausschließlich auf die konservative Methode mit täglich achtstündiger Liegekur im Freien. Bald wurde mir klar, dass ich auf einem Abstellgleis gelandet war, und dass ich diesen Trott nicht noch einmal acht oder zehn Monate lang würde aushalten können. Nach der ersten Phase völliger Entmutigung raffte ich mich auf und entschloss mich, selbst etwas zu tun. Immerhin hatte ich ja jetzt trotz allem ein Ziel. Ein Weg war beschritten, und den musste ich um jeden Preis weitergehen. Es war der Strohhalm, an den ich mich klammerte. Ich durfte nicht aufgeben, musste irgendwie an meinem Studium dranblei- ben. Die geöffnete Tür durfte ich nicht wieder zuschlagen lassen. Als ein Türspalt zur Zukunft erschien mir da Dr. Lindners Lateinkurs, den ich im letzten Semester belegt hatte. Wenigstens hier wollte ich den Anschluss nicht verpassen, durfte den Lernfaden nicht verlieren. Ich konn- te ja im Liegen lernen. Lindners Unterricht fand dienstags von zwei bis vier Uhr nachmittags statt. Um diese Zeit herrschte in den Liegehallen im Park strenge Schweigekur. Auf meinem Liegestuhl versteckte ich Zivilkleidung. Allwöchentlich an jenem Tag während der Mittagszeit – die anderen befan- den sich noch im Speisesaal – schlüpfte ich aus meinem gestreiften Kranken- anzug und zog meine eigenen Sachen an. Halb zwei saß ich in der Straßen- bahn Richtung Innenstadt, um zwei in Lindners Kurs, der von meiner bedenklichen Schattenexistenz nichts ahnte. Eines Tages Ende November – im Park zu Schönau war es nasskalt und neblig – fasste ich einen Entschluss: Ich durfte hier nicht länger bleiben, musste mich um jeden Preis aus dieser Falle befreien. Heimlich stahl ich mich aus dem Kurheim und fuhr in die Innenstadt zur Universitätsklinik, deren Ärzte mich zwei Jahre zuvor über längere Zeit betreut hatten. Dort hatte ich ein Gespräch mit dem noch vertrauten TBC-Stationsarzt Dr. Bala- mides und bat ihn um Hilfe. Der verstand meine traurige Lage sofort und versprach mir, mich wieder in die Klinik zu holen. Zehn Tage später lag ich auf seiner Station und bekam Streptomycin gespritzt. Hier befand ich mich in vertrauter, freundlicher Umgebung. Ärzte und Schwestern kannten mich, und unter den Mitpatienten fanden sich sympathische Menschen wie der Bibliothekar (und spätere Direktor der Deutschen Bücherei) Gottfried Rost, mit dem ich bis zu seinem frühen Tod freundschaftlich verbunden blieb. Zur wöchentlichen Lateinstunde konnte ich nun zu Fuß gehen. Schon nach wenigen Wochen zeigte das Röntgenbild eine deutliche Rückbildung des Krankheitsprozesses, und bereits im Januar wurde ich als geheilt entlassen. Eine vierwöchige Festigungskur in einem kirchlichen Heim zu Oberbärenburg im tiefverschneiten Osterzgebirge brachte mich wieder vollends auf die Beine, sodass ich im Frühjahr 1957 mein Studium fortsetzen konnte.
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