Leseprobe

83 Studium mit Turbulenzen Seit Herbst 1956 hatte sich die politische Situation in der DDR erneut ver- schärft. Während ich im Oktober in der Sack’schen Villa gelegen hatte, war in Ungarn ein Volksaufstand gegen die rote Diktatur ausgebrochen und von der Sowjetarmee brutal niedergeschlagen worden. Auch das Ulbricht-Regime war längst zur Repression und Verfolgung aller Andersdenkenden zurück- gekehrt, diesmal besonders an den Universitäten und Hochschulen. Im Frühjahr 1957 startete die Staatspartei erneut eine Verleumdungskampagne in Presse und Rundfunk gegen die Evangelischen Studentengemeinden. Im Mittelpunkt der Angriffe stand die Leipziger Gemeinde, welche damals großen Zulauf hatte und um die 600 Mitglieder zählte. Die Verfolgungswel- le gipfelte in der Verhaftung unseres Studentenpfarrers Dr. Schmutzler und der vier sogenannten Vertrauensstudenten. Der Klassenkampf gegen die »bürgerliche Ideologie« und ihre angeb- lichen Vertreter im Bereich der akademischen Forschung und Lehre wurde von SED und FDJ mit organisierter Härte geführt. Den großen Philosophen Ernst Bloch hatte man zwangsemeritiert und mit Hausverbot belegt. Die Folge dieser Übergriffe der roten Staatsmacht war eine Fluchtwelle von Wissenschaftlern und Künstlern in den Westen. Vor allem gingen diejeni- gen Hochschullehrer, die noch Rang und Namen hatten. Man ersetzte sie durch meist jüngere systemtreue Marxisten und Schwachköpfe. »Wir können uns diesen Aderlaß leisten. Er ist heilsam für unser sozialistisches Bildungs- wesen«, kommentierte Ulbricht den katastrophalen Gang der Dinge. Das Sommerpraktikum 1957 machte ich bei Direktor Henner Menz in der Dresdner Gemäldegalerie. Mit nie erlebtem Hochgefühl von Bewunde- rung schritt ich durch die neuen Säle des Semper’schen Museumsbaus. Vor den gerade erst aus der Sowjetunion zurückgekehrten Bildern verkündete ich andächtig lauschenden Gruppen meine kurz zuvor angelernten kunst- geschichtlichen Weisheiten. Am Chorgesims der Leipziger Nikolaikirche kann man bei genauem Hinsehen eine menschliche Fratze mit herausgestreckter Zunge entdecken. Offenbar war sie Professor Ladendorf aufgefallen. Er schlug mir vor, mich in einer Semesterarbeit mit dem Phänomen dieser »Neidköpfe« zu beschäf- tigen. Ich aber hielt das Thema für unattraktiv und ärgerte mich über die Anspielung auf meinen Namen, wegen der Ladendorf es ja wohl gerade mir zugedacht hatte. Als ich mich aber ein wenig über die Sache informiert hatte, begann mich das bisher kunsthistorisch unbearbeitete Thema zu fesseln. Ich verlegte meinen Arbeitsplatz in die Deutsche Bücherei, und schon bei der Materialsammlung wurde mir die zungenbleckende Dämonenfratze mit den vorquellenden Augen immer interessanter. War das nicht das Abbild des Bö- sen, war es nicht mein Dämon, der mich immerzu quälte und verfolgte? Sinn und Zweck der an Kirchenfassaden, Torbögen und Hauseingän- gen angebrachten Fratzen war es, böse Geister durch ihr eigenes Bild abzu- schrecken. Was ich in drei Monaten zusammengetragen und in eine gewisse Form gebracht hatte, war eigentlich nur der Beginn einer notwendigen, zeitlich weitergreifenden Forschungsarbeit. Ich hatte mich beeilt, um den Abgabetermin einzuhalten. Doch als ich mein Opus Ladendorf überreichen

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