Leseprobe

147 Im Gegenzug dafür sollte ein britischer Kollege namens John Gage bei uns in Dresden über Turner sprechen. Er kam im Juli und hielt seinen Vortrag auf Deutsch im vollbesetzten Gobelinsaal der Sempergalerie. Mir war die Moderation des Abends zugefallen. Dass John vor den feierlichen Raffa- el-Teppichen in verwaschenen Jeans und einem alten, grauen Pullover auf- trat, störte mich weniger als die Tatsache, dass er auf beängstigende Weise stotterte. Ihm machte das offenbar nichts aus, und das dankbare Dresdner Publikum tolerierte es. Mir aber trieb es Schweißperlen auf die Stirn. John Gage lud mich zu einem Vortrag zu sich an die Universität Norwich ein. Diesen beiden freundlichen Kollegen hatte ich eigentlich meine Eng- landreise zu verdanken, denn die Briten hatten – wie ich später erfuhr – ausdrücklich meinen Besuch gewünscht, obwohl natürlich jemand anderes auch gern nach London geflogen wäre. In Dresden konnte man diese Bitte wohl nicht gut abschlagen ohne das Gesicht zu verlieren. Und im Ostberliner Kulturministerium nutzte man inzwischen gern die internationale Akzep- tanz von Wissenschaftlern zur Verbesserung des Ansehens ihres Arbeiter- und Bauernstaates in der westlichen Welt. So kam es, dass ich am 2. 0ktober 1972 erstmals meinen Fuß auf den Boden des Vereinigten Königreichs setzte. Genau gesagt, war es das Rollfeld des Londoner Flughafens Heathrow. In meinem Pass hatte ich ein Visum für einen zwölftägigen Aufenthalt. Ich konnte es kaum fassen. Das Symposium in der Tate Gallery fand gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft statt und wurde von Vaughan geleitet. Neben mehreren eng- lischen Kollegen kam Helmut Börsch-Supan, der verdienstvolle Friedrich-­ Experte aus Westberlin, zu Wort. Meinen Vortrag, der eher ein Randthema betraf, hatte Freund Günther Klieme für mich in einwandfreies Englisch übersetzt. Nach dieser Zusammenkunft der Fachkollegen hatte ich bis zu mei- nem zweiten Vortrag viel Zeit, die faszinierende Stadt zu entdecken. Jetzt erst kam ich richtig auf der Insel an. Die heute in Freiheit lebenden Ostdeut- schen, die sich jederzeit nach Lust und Laune in ein Flugzeug nach London setzen können und dazu nicht einmal einen Pass brauchen, können sich kaum vorstellen, was es damals für mich bedeutete, endlich eine der größ- ten und traditionsreichsten Metropolen Europas kennenzulernen. Nach der langen Zeit zwangsverordneter Provinzialität im Honecker-­ Ländchen lief ich, umtost vom Londoner Verkehr, inmitten quirlender Menschenrudel, wie in einem Rausch der Freiheit durch die aufregende Hauptstadt des Empire. Gemeinsam mit jungen Leuten aller Hautfarben saß ich auf den Stufen des Nelson-Monuments am Trafalgar Square, be- staunte am Picadilly Circus die flackernden Lichtreklamen und schlenderte mit leichtem Gruseln durch das Glamour- und Vergnügungsviertel von Soho. Alles war mir neu und interessant, und ich wollte es wissen. Und musste es schaffen, mich im Hexenkessel der Achtmillionenstadt zurecht- zufinden. Um den Stress auszuhalten, den der Sprung aus dem reglemen- tierten Ghetto des SED-Staates in die freie Wildbahn des kapitalistischen Alltags für mich bedeutete, war gute Kondition nötig. Täglich war ich von morgens bis in die Nacht auf den Beinen.

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