Leseprobe

148 In meinem Tagebuch hatte ich alles gewissenhaft aufgelistet, was ich in Museen und Sammlungen, in Schlössern und Kirchen alles sah. Wusste ich doch nicht, ob ich jemals im Leben noch einmal würde hierherkommen dürfen. Jetzt, nach dreißig Jahren, kann ich mir die ciceronehaften Aufzäh- lungen von Londons Sehenswürdigkeiten sparen. Es wäre für den heutigen Leser nicht mehr von Interesse. Doch erinnere ich mich der emotionalen Überwältigung, mit der ich durch die Säle der National Gallery schritt. Hier traten sie mir hautnah ge- genüber, die großen Meister der europäischen Malerei, die der gebildete Mensch mit sechzehn erleben und der Student der Kunstgeschichte mit zwanzig am Original studieren sollte. Und von diesem Kräftestrom der Welt- kultur – so schien es damals – sollten wir für immer abgeschnitten bleiben. In der Tate Gallery, die am Ufer der Themse gelegen ist, begeisterten mich besonders die Bilder von Constable und Turner, deren künstlerischer Nachlass hier bewahrt wird. So deutlich war es mir noch nicht bewusst ge- worden, dass sie hier auf der Insel das farbige Licht bereits Jahrzehnte frü- her als auf dem Kontinent entdeckt und gemalt hatten. Raum an Raum mit ihnen hingen nun unter dem Titel »Caspar David Friedrich. Romantic Landscape Painting in Dresden« für acht Wochen un- sere Gemälde des großen Malers und die seiner Freunde. Vaughan hatte die Bilder zu dieser glanzvollen Ausstellung aus ganz Deutschland zusammen- geholt. Zum ersten Mal überhaupt durfte man sein künstlerisches Gesamt- werk in einer nie gesehenen Fülle und Geschlossenheit erleben. Erst hier an der Themse konnte ich mir ein gültiges Bild machen von unserem großen Dresdner Meister. Dieses Erlebnis war für mich eine Sternstunde. Da das erhaltene Oeuvre Friedrichs ziemlich gleichmäßig auf die bei- den deutschen Teilstaaten verteilt ist, schrieb ein Rezensent, in »Christ und Welt«, könne es nur die den »deutschen Querelen fernstehenden Engländer verwundern, daß die bisher größte Friedrich-Ausstellung nicht in Ham- burg, Berlin oder Dresden« stattfindet. Die Resonanz in Großbritannien, aber auch auf dem Kontinent war groß und der Katalog nach wenigen Wo- chen vergriffen. Helmut Börsch-Supan wohnte mit seiner Frau Eva im selben Hotel wie ich, und wir unternahmen einiges gemeinsam. Börsch war ein Mann von bescheidenem Äußeren mit hoher Stirn und flatterndem Haarbüschel. Er wirkte auf mich immer ein wenig zerstreut, war es aber überhaupt nicht. Ich bewunderte ihn um seiner profunden Fachkenntnis willen. Unsere Bekannt- schaft hatte schon 1960 begonnen. Damals hatte er mir seine Dissertation über »Die Bildgestaltung bei Friedrich« übersandt, und daraus hatte sich ein jahrelanger Briefwechsel ergeben. Bei einem hohen Grad an grundsätz- licher Zustimmung gab es doch zwischen uns in manchen Auslegungsfragen Diskussionsstoff. Es ist schwierig, aus der Fülle der Londoner Eindrücke wenige wesent- liche herauszuheben. Der Atem tausendjähriger Geschichte dieses Inselvol- kes und seiner Herrscher wehte mich an im Tower, wo sie ihre Staatsgefange- nen anketten und köpfen ließen, in Westminster Abbey, wo sie ihre Könige krönten und beisetzten und ihre großen Geister mit riesigen Epitaphien

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