Leseprobe
221 neun Monate vor seinem Untergang schon so weit fortgeschritten, dass da- ran überhaupt nicht mehr zu denken war. Jedoch wurde die Schau im Al- bertinum von Sonderpublikationen der »Dresdener Kunstblätter« und der »Dresdner Hefte« begleitet, in der sieben Autoren sich vor allem zur Bedeu- tung von Carus als Arzt, Geburtshelfer, Naturforscher, Naturphilosoph und als Präsident der Akademie der Naturforscher »Leopoldina« äußerten. Dass das Geburtsjubiläum des großenWahldresdners – er war im Revo- lutionsjahr 1789 in Leipzig zur Welt gekommen – wiederum mit einer Revo- lution zu Ende gehen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Paralyse der maroden DDR Es gibt Lebensphasen, die sich im Rückblick mit ihrem täglichen Einerlei ereignislos hindehnen und dann wieder solche, in denen sich die Dinge überstürzen. Seit Mitte der achtziger Jahre hatten die Spannungen in der politisch lernunfähigen DDR ständig zugenommen, während sich in Mos- kau seit dem Erscheinen Michail Gorbatschows an der Spitze der KPdSU aufregende Veränderungen abzeichneten. Dessen revolutionierender Aus- spruch auf einem Plenum seines Zentralkomitees im Januar 1987, »Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen«, hatte ich zusammen mit einem Porträtfoto des Mannes an die Glasscheibe meines Bücher- schrankes an meinem Arbeitsplatz im Albertinum angeheftet, und die Ge- nossen, mit denen ich gelegentlich zu tun hatte, ärgerten sich darüber. Plötzlich schien die immer und immer wiederholte Staatsparole »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« nicht mehr zu gelten. Vielmehr meinte Kurt Hager, die graue Eminenz der DDR-Kulturpolitik, »Perestroika« und »Glasnost« in der Sowjetunion seien nur Zeichen eines »Tapetenwech- sels« im Nachbarhaus, den wir ja in der DDR nicht nachmachen müssten. Der Mann hatte die Zeichen der Zeit nicht verstanden, hatte nicht begriffen, dass es hier nicht um äußerliche Kosmetik, sondern um das Legen neuer Fundamente für den Bau eines besseren Hauses ging. Wirkte doch längst »dieses vormundschaftliche System wie eine riesige Apathiemaschine bis in die Verästelungen der Gesellschaft hinein« (Rolf Henrich). Ich aber hatte die verwegene Hoffnung, dass sich im Land bald etwas ändern werde. Am 7. Mai 1989 gab es eine letzte Kommunalwahl nach dem verloge- nen Diktaturprinzip. Doch wir ließen uns den Betrug einfach nicht mehr gefallen, benutzten die immerhin aufgebauten Kabinen (was schon als höchst verdächtig galt) und stimmten gegen die von der Partei aufgestellte Einheitsliste. Das Ergebnis wäre erstmals ein deutliches Votum gegen die rote Diktatur gewesen, wurde aber wie üblich von der SED zu ihren Guns- ten gefälscht. Die Wut und Empörung darüber waren groß, das Grollen nahm zu. Der Sommer war aufregend. Mit der Grenzöffnung Ungarns nach dem freien Westen begann das letzte Kapitel der DDR-Geschichte, wenn- gleich wir das damals nicht im Entferntesten für möglich hielten. So war es durchaus nicht ungefährlich, als ich Ende August einen subversiven Aufruf
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1