Leseprobe
222 einer Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR kopierte und an einige Leute weitergab. Darin wurden offen die »Strukturen organisierter Verantwortungslosigkeit« kritisiert, welche »die moralischen Grundlagen in Gesellschaft und Staat zerstörten«. Und dann folgten fünf Seiten lang Forderungen nach demokratischen Reformen. Sicher war es ein Fehler, dass ich ein Exemplar dieses Papiers, verfasst angeblich von »feindlich oppositionellen Kräften« (Wortlaut des Ministeri- ums für Staatssicherheit der DDR) meinem Kollegen Direktor zu lesen gab, dem ich vertraute. Ich wollte ihn motivieren, innerhalb seiner Partei einen Reformflügel zu gründen. Ihm traute ich das zu. Aber ich wurde enttäuscht, denn er hatte nichts Besseres zu tun, als damit zum Staatssicherheitschef der Staatlichen Kunstsammlungen zu gehen und das Papier dort abzulie- fern. Heute weiß ich, dass er wie die Mehrzahl der damaligen Direktoren schon seit langem guten Gewissens auch für die Staatssicherheit arbeitete. Davon hatte ich damals keine Ahnung. Sogleich wurde ich vor den amtierenden Generaldirektor und den Staatssicherheitschef zitiert, die mir mein subversives Tun klarzumachen versuchten. Ich wurde vergattert, das Pamphlet nicht weiter zu verbreiten und verließ den Raum mit unguten Gefühlen, disziplinarische Folgen er- wartend. Immer lauter erhoben jetzt kirchliche Gruppen, die für Frieden, Men- schenrechte und Bewahrung der Schöpfung eintraten, ihre Stimmen und forderten eine grundlegende Erneuerung des sozialistischen Staates. Auch die nichtkirchliche Opposition trat als »Neues Forum« und »Demokratie jetzt« auf den Plan und wurde sogleich als »illegal und staatsfeindlich« ver- teufelt. Inzwischen verließen Tausende über die ungarische Grenze oder über die BRD-Botschaften in Budapest, Warschau und Prag das Land in Richtung Westen. Es war eine spannende Zeit voller Hoffnung und zugleich Wut und Niedergeschlagenheit angesichts der Ignoranz und Tatenlosigkeit der senilen Betonköpfe in Ostberlin. Heißer Herbst Den Geschehnissen der Herbst- und Wintermonate 1989/90 eignet eine für mich bemerkenswerte Korrespondenz von biografischen und geschicht lichen Zäsuren. Im Januar 1990 wollte ich mit dem 65. Geburtstag mein Berufsleben beenden. Wenige Monate vorher jährte sich zum dreißigsten Mal mein Eintritt in die Staatlichen Kunstsammlungen. Aus diesem Anlass bereiteten mir Freunde und Kollegen am 2. Oktober im Caspar-David- Friedrich-Raum des Kügelgenhauses ein Ehrenkolloquium, was für hiesige Verhältnisse ein durchaus ungewöhnliches Ereignis war. Die Luft war span- nungsgeladen. Alle waren bewegt von den aktuellen Ereignissen in der Prager Botschaft. Wenn ich die Themenliste der 18 Referate überlese, bedaure ich noch heute, dass die Beiträge nicht in einer Festschrift zusammengefasst werden konnten. Daran war in jenen Tagen allerdings überhaupt nicht zu denken
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