Leseprobe
223 und zwar nicht allein wegen des Mangels an Papier und Druckkapazität, sondern vor allem aus politischen Gründen. Besaß ich doch nicht den Sta- tus eines Kaders, dem eine solche, von der Partei zu genehmigende Ehrung zugestanden hätte. Zwei Tage danach begann in Dresden mit der nächtlichen Erstürmung eines aus Prag kommenden Reisezuges voll sogenannter Botschaftsflücht- linge durch hiesige Ausreisewillige die »Schlacht auf dem Hauptbahnhof«. Am 5. Oktober wollte ich mit Vera zu Geburtstagsbesuchen meines Bruders und ihres Vetters in die Bundesrepublik fahren, was in der späten DDR möglich geworden war. Als wir morgens den Interzonenzug nach Hannover besteigen wollten, erblickten wir vor dem Hauptbahnhof die Spuren der nächtlichen Kämpfe zwischen renitenten DDR-Bürgern und Volkspolizis- ten: aufgerissenes Pflaster, zerschlagene Türscheiben, ein umgestürztes, ausgebranntes Polizeifahrzeug. Erst in den frühen Morgenstunden hatten Einsatzkräfte der Volkspolizei mit Tränengas die wütende Menge aufgelöst. Die Revolution hatte begonnen. Wir waren aufgeregt, als sich unser Zug westwärts in Bewegung setzte. Ahnten wir doch, dass wir wichtige Dinge vor Ort verpassen würden. So ergab es sich, dass wir die sich überstürzenden Ereignisse in Dresden, Leip- zig und Ostberlin nur aus Westsicht im Fernsehen verfolgen konnten. Als wir Mitte Oktober zurückkamen, hatte es in den genannten Städten mehrere spontane Massendemonstrationen gegeben. Doch am 8. Oktober war es nach einem gewaltlosen Massenprotest in Dresden zu Gesprächen zwi- schen Vertretern der Staatsmacht, der Kirchen und der Demonstranten ge- kommen. Das brachte die Wende. Noch in der Nacht hatten Kuriere die Nachricht von der Verhandlungsbereitschaft der Machthaber zusammen mit der von der Evangelischen Kirche ausgegebenen Losung »Keine Ge- walt!« nach Leipzig gebracht, wo dann auch der entscheidende Protestzug der Hunderttausend am Tag danach ohne Knüppelei und Blutvergießen verlief. Wir erlebten das Wunder der Friedlichen Revolution. Nach dem Rücktritt Honeckers am 18. Oktober und dessen Ersetzung durch Egon Krenz gingen die öffentlichen Proteste weiter. Die Opposition, die sich inzwischen formiert und organisiert hatte, trat immer selbstbe- wusster auf und forderte den Dialog mit den Herrschenden auf allen Ebe- nen mit dem Ziel, in unserem Land einen reformierten, demokratischen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu errichten. Mir erschien angesichts der sich jetzt eröffnenden Möglichkeiten öf- fentlicher Einflussnahme ein Weglaufen in die Bundesrepublik als egoisti- sches, gegenüber den Zurückbleibenden verantwortungsloses Handeln. Besonders verwerflich fand ich es – wie auch schon im letzten Jahrzehnt der DDR –, wenn Ärzte und Pfarrer ohne in Bedrängnis zu sein, ihre Patienten und Gemeinden verließen, anstatt jetzt die Verhältnisse zum Wohl aller mitzugestalten. In Dresden hatten Superintendent Christof Ziemer, Landesbischof Johannes Hempel und von Seiten der Staatsmacht Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer durch ein Aufeinanderzugehen erreicht, dass die poli- zeiliche Gewaltherrschaft beendet und ein Dialog eröffnet werden konnte.
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