Leseprobe
4 Vorbemerkung Jene Zeitsekunde, während der wir im Strom der Jahrmillionen ein Stück mitschwimmen dürfen, haben wir uns nicht gewählt. »Denn ein Gott hat jedem seine Bahn vorgezeichnet« (Goethe). Das zielt auf die Schicksalhaf- tigkeit unseres Geworfenseins in Zeit und Raum. Wir können uns Ort, Um- stände und Zeitpunkt unserer Geburt nicht aussuchen. War auch meine frühe Kindheit in der Weimarer Republik durchaus behütet und unbeschwert, so wurde sie doch mit Beginn der braunen Dik- tatur in wachsendem Maße belastet und eingebunden in zwanghafte gesell- schaftliche Strukturen und Entwicklungen, aus denen es kein Entkommen gab. Als ich vierzehn Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg, der mit mörderischer Brutalität das Leben von Millionen Menschen bestimmte oder sogar auslöschte. Niemand in Deutschland konnte sich aus der Katas- trophe heraushalten. Ich entkam ihr, durch eine Gewehrkugel schwer ver- wundet und körperlich auf Dauer geschädigt. Nach Kriegsende folgten die Jahre des Hungerns und andauernder schwerer Krankheit. Ich fiel zu Boden und stand wieder auf, fiel erneut und erhob mich wieder. Und es kam über uns die neue Unfreiheit der roten Diktatur, die wir nicht gewählt hatten. Doch will ich nicht vergessen, dass ich der Solidarge- meinschaft, die auch eine Seite dieser »Sozialistischen Ordnung« war, man- ches Gute verdanke, wie meine lang dauernde ärztliche Behandlung und Pflege in Krankenhäusern und Heilstätten, aber auch Hochschul- und Uni- versitätsstudium, das dem völlig Mittellosen ermöglichte, Bildung zu er- werben. Andererseits blieb mir in jener Gesellschaft versagt, was man eine Karriere nennt, weil ich ihr Credo nicht annehmen konnte. Dennoch: Es waren wertvolle Lebensjahre, die trotz aller Beschränkung sinnvoll gefüllt werden wollten. Und es gab Freuden, auch in Leidenszeiten. Ich empfing sie dankbar – die Schönheiten der Schöpfung in der Natur und der Werke menschlicher Kreativität, die Wunder der Töne und der Farben, die Gaben des Lesens, des Lernendürfens und des eigenen Gestaltenkönnens –, denn die Sonne schien auch im Osten. Nach 1960 war die Zeit persönlicher Heimsuchungen vorüber. Es folg- ten Jahre gesundheitlicher Konsolidierung. Die Jahrzehnte meiner Lebens- mitte waren eine Zeit der Bewährung im Käfig DDR zwischen der selbst verordneten Verpflichtung im Dienst der Kunstvermittlung und der Ver- weigerung ideologischer Unterwerfung. Dienstreisen mit Kunstwerken oder ganzen Ausstellungen boten Möglichkeiten der Kontaktpflege mit der »Freien Welt«. Seit der internationalen Öffnung der DDR nach der Helsinki-Konfe- renz 1975 wurden Kunstwerke und Künstler zu Botschaftern des Friedens und der Verständigung. Das kulturelle Erbe von Jahrhunderten, das wir zu bewahren hatten, war ein unteilbar europäisches. So wurde Kulturaustausch zwischen Ost und West für mich zum politischen Bekenntnis: Das abge- trennte Stück Deutschland zwischen Dresden, Erfurt und Stralsund mit seiner Geschichte und Kultur gehörte zu diesem Europa. Waren wir auch
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