Leseprobe

7 Aufziehende Gewitter Ich wusste nun, dass ein Mensch nicht fremd sein kann auf seinen Wegen, weil die Spur seiner Geleise hinter ihm herläuft, rückwärts bis zu dem Beginn seiner Kindheits- träume. Daß das Sichtbare sich wandelt, aber niemals das Unsichtbare, und daß das Kind uns niemals verstößt, aus dem wir aufgewachsen sind. Ernst Wiechert, Wälder und Menschen Wie die Zeiten waren Als ich an einem kalten Wintertag des noch jungen Jahres 1925 in Gohlis, einem der nördlichen Vororte von Leipzig, das Licht der Welt erblickte, war diese keineswegs in Ordnung. Deutschland lag sieben Jahre nach dem ver- lustreichen, verlorenen Ersten Weltkrieg am Boden. Im Freistaat Sachsen, dem industriellen Kernland des Deutschen Reiches, hatte eine von den So- zialdemokraten geführte Koalitionsregierung das Sagen. In jenem Jahr schrieben die Siegermächte die im Friedensvertrag von Versailles diktierten engeren Grenzen im Pakt von Locarno fest. Die Unterschriften aller am Krieg beteiligten Mächte schufen aber auch die Grundlage für ein neues, gleichberechtigtes Miteinander der europäischen Staaten. Für das verarmte Deutschland begann mit dem Zufluss amerikanischen Kapitals nach jahre- langer Wirtschaftskrise eine Phase wirtschaftlicher Erholung. Stefan Zweig sah in dem knappen Jahrzehnt zwischen 1924 und 1933 »trotz allem […] eine Pause in der Aufeinanderfolge von Katastrophen«. Gleichzeitig mit dem Wirtschaftsaufschwung begannen jene Jahre, die man später die »Golden Twenties« genannt hat. Ihr Symbol war der Charleston, ein amerikanischer Modetanz, dem sich die jungen Leute beineverrenkend und mit Leidenschaft hingaben. Wirklich »golden« war diese Zeit freilich nur für Wenige. Diese hoffnungsvollen Aspekte sollten sich indessen alsbald als Täu- schung herausstellen. Rückschauend registriere ich sechs Wochen nach meinem unmaßgeblichen Erscheinen in der Nordgohliser Nachkriegsszene zwei verhängnisvolle Ereignisse, die das deutsche Volk in die größte Katas- trophe seiner Geschichte führen sollten: Am 27. Februar 1925 gründete in einem Hinterzimmer des Münchner Bürgerbräukellers Adolf Hitler die 1923 schon einmal verbotene Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei neu. Auf einem Zeitungsfoto sieht man den späteren Diktator in dunklem An- zug mit weißem Hemd und Krawatte vor Hakenkreuzfahnen und -stand- arten stehend, umgeben von seinen Getreuen, darunter die Judenhasser und -mörder Himmler und Strasser, bei einer seiner ekstatischen Reden.

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