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8 Danach zeigte er sich seinen zahlreichen Sympathisanten. »Als Hitler er- scheint, umjubeln ihn die Anhänger […]«, heißt es in einem Pressebericht. Einen Tag später stirbt Friedrich Ebert, der verdienstvolle erste Präsi- dent der Weimarer Republik. Die französische Zeitung »Temps« kommen- tierte, Ebert sei der letzte Wall der Republik gegen den Ansturm der Natio- nalisten gewesen, der Deutschland erneut in eine Politik der Abenteuer hineinzutreiben drohe. Sein Tod könne für die künftige Entwicklung in Europa sehr ernste Folgen haben. Wie recht der Kommentator hatte, zeigte sich schon drei Monate danach bei der Neuwahl des Reichspräsidenten. Die Deutschen entschieden sich für den alten kaiserlichen Schlachtenlenker des Ersten Weltkriegs Generalfeldmarschall von Hindenburg. Das war kein Signal zur Versöhnung und friedlichen Nachbarschaft. Die Neidhardts Leipzig, der alte Handels- und Messeplatz, war damals nach Berlin, Hamburg, Köln und München die fünftgrößte Stadt des Deutschen Reiches. Der Vor- ort Gohlis, ursprünglich ein Bauerndorf am Rande des idyllischen Rosen- tals, war erst 1890 der wachsenden Großstadt eingemeindet worden. Hier ließen sich etwa ein Jahrzehnt später meine Eltern an seiner nördlichen Grenze nieder. Der hoch gelegene Stadtteil hatte damals bereits 20000 Ein- wohner und galt als sauber, freundlich und – vornehm. Dieses letzte Attri- but beruhte wohl auf der Tatsache, dass seit den Gründerjahren mit Vorlie- be auch wohlhabende Kaufleute, Verleger und Universitätsprofessoren in dem industriearmen Vorstadtviertel Wohnung nahmen. Was den 22-jährigen ungelernten Arbeiter Otto Neidhardt zusammen mit seiner drei Jahre jüngeren Braut Hedwig Starke im Jahre 1902 veranlasst hat, aus dem thüringischen Residenzstädtchen Gera in die aufstrebende sächsische Industrie- und Handelsmetropole zu ziehen, kann man nur ver- muten. Wahrscheinlich haben die besseren Existenzbedingungen eine Rolle gespielt. Auch erwartete das junge Fräulein Starke ein Kind von ihm, und man war noch nicht verheiratet. Das war in einer Kleinstadt damals höchst anrüchig. Da hatte wohl ihr älterer Bruder Werner, der bereits in Gohlis lebte, zur Übersiedlung geraten. Otto hatte eine schwere Jugend gehabt. Er war als uneheliches Kind zur Welt gekommen und war gerade mal zehn Jahre alt, als seine Mutter starb. Der Vater, ein Herr Lobenstein, hatte die beiden sitzen lassen und war nach Russland entwichen, wo er später in Odessa geheiratet und Thüringer Bier gebraut haben soll. Hedwig stammte aus einer soliden Familie von Bauhandwerkern. Ihr Vater war Maurer, ihr Großvater Zimmermann gewesen. Alle hatten in der Umgebung von Greiz und Gera gelebt. Des Vaters Vorfahren aber kamen aus Münchenbernsdorf, einem Ort 30 km südlich von Schleiz. Die in dieser Landschaft heute vorhandene Konzentration evangelischer Familien unseres Namens scheint zurückzugehen auf eine Gruppe von Exulanten, die unter dem Druck der Gegenreformation Ende des 16. Jahrhunderts Oberöster-
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