Leseprobe

9 reich verlassen und in Schleiz, das zu den lutherisch-kursächsischen Landen gehörte, Zuflucht gefunden hatte. Was die weitere Ausbreitung der Neid- hardts nach Sachsen betrifft, so soll im Leipziger Adressbuch von 1905 noch keine zweite Familie des Namens verzeichnet gewesen sein. Nein, ich war sicher nicht, was man ein Wunschkind nennt. Das Elternhaus, in dem ich nach neunzehnjähriger Geburtenpause erschien, ge- riet durch mich in nicht geringemMaße in Verlegenheit. Es heißt, dass mei- ne Mutter meinem Vater ziemlich böse gewesen sein soll über die von ihm verursachte Aufregung. Meine ungeplante Ankunft war ihr ein wenig pein- lich gegenüber den schon erwachsenen Kindern und den Nachbarn. Nie- mand hatte damit gerechnet, dass sie so spät noch einmal schwanger wer- den würde. Meine drei Geschwister waren rund zwanzig Jahre älter als ich. Dennoch war mein Debut im Hause Treitschkestraße 22 offenbar von vor- wiegend freudigen Emotionen begleitet. Freilich soll es auch misstrauisch tuschelnde Nachbarn gegeben haben, die es meiner Kinderwagen schieben- de Mutter nicht abnehmen wollten, dass das plärrende Bündel in dem hoch- rädrigen Gefährt ihr eigener Nachzügler sei. Sie vermuteten vielmehr, ich sei das uneheliche Kind meiner 19-jährigen Schwester Ilse. Treitschkestraße Die Familie, in die ich da, sozusagen versehentlich, geraten war, gehörte nicht zu den besserverdienenden und war nicht mit Glücksgütern gesegnet. Der Vater arbeitete als angelernter Monteur bei einer Gohliser Fabrik für me- chanische Musikinstrumente wie elektrische Klaviere und Konzert-Orche- strions. Leipzig war damals ein berühmtes Produktionszentrum solcher Musikapparate, die man in alle Welt exportierte. ImAuslandsdienst, der ihn bis nach Russland und Kleinasien geführt hatte, war Otto vor dem Ersten Weltkrieg ganz gut gefahren, aber in den zwanziger Jahren wurde er, wie Millionen anderer Männer, infolge des Konkurses seiner Firma in der glo- balen Wirtschaftskrise arbeitslos. Meine drei Geschwister hatten, sobald sie das vierzehnte Lebensjahr erreichten, schnellstens einen Beruf erlernen müssen, um Geld zu verdie- nen. Auch meine Mutter ging schon während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 und vor allem in den schlechten Zeiten danach zu gutsituierten Familien in Gohlis arbeiten, um mit Putzen und Wäschewaschen die schwächelnde Haushaltskasse durch ein paar zusätzliche Mark aufzubessern. Als junge Frau war sie eine schlanke, dunkelhaarige Schönheit gewesen. Ich aber kannte sie nur als früh gealterte Frau im Zustand ständig gehetzter, aufge- regter Betriebsamkeit. Der Vater dagegen war von ruhiger Natur. Er besaß musische Interes- sen, die zu pflegen ihm seine Arbeitslosigkeit Gelegenheit bot. Musikalisch hochbegabt, spielte er Klavier. Ohne Noten lesen zu können, griff er die Akkorde aus dem Gedächtnis. Und er konnte wunderbar improvisieren und fantasieren. Dazu war er ein talentierter Schauspieler und Rezitator. Das Fo- rum, das seinen künstlerischen Fähigkeiten Entfaltung bot, hieß »Vorwärts«

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