Leseprobe
22 Leopold Wiel, Ihr Freund und Förderer, schreibt für diesen Band, dass Sie Glück hatten, bei Persönlichkeiten studieren zu können, die nicht nur anerkannte Fachleute, sondern zugleich Wegbegleiter ihrer Studenten in einer Zeit voller Probleme waren. Nahmen Sie dies schon zu Ihrer Studienzeit wahr? Rückblickend kann ich sagen, dass wir tatsächlich ein großartiges Kollegium von Professo- ren hatten, die uns mit großer Hingabe in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Krieg ihr Wissen und ihr Können vermittelten. Das waren unter anderem Hans Hartl und Heinz Röcke in Freihandzeichnen, Emilio Kentzler in Technischem Zeichnen, Otto Schubert in Bauformenlehre und Gebäudelehre, Eberhard Hempel in Kunstgeschichte und Geschichte der Baukunst, Walter Hentschel in Denkmalpflege, Heinrich Rettig in Werklehre und Gebäudelehre, Walter Henn in Baukonstruktion und Industriebau, Karl Wilhelm Ochs in Entwerfen von Hochbauten und Gebäudelehre, Cords Parchim in Ländliches Bauwesen und Technische Bauhygiene, Werner Bauch in Garten- und Landschaftsgestaltung, Georg Ner- lich in Malen und Grafik, Gerhard Langner in Aktzeichnen und Bauplastik, um nur die wichtigsten zu nennen. Karl Wilhelm Ochs wurde zu einem meiner Wegbegleiter. Bei ihm fertigte ich meinen ersten Pflichtentwurf, ein Musiklandheim in Dresden-Loschwitz, an. Durch die Liebe zur Musik entstand zwischen uns allmählich eine wunderbare Freund- schaft. Er besaß einen schönen alten Steinway-Flügel und eine Hausorgel, auf der wir unvergessliche Stunden mit Bachs Orgelwerken verbrachten. Sie studierten in einer Zeit, in der es kaum Arbeitsmittel geschweige denn Lehrmaterialien gab. Die Professoren kannten natürlich die Problematik der fehlenden Fachpublikationen. Wie wichtig war, dass wenige Jahre später entsprechende Nachschlagwerke vorlagen? Wir waren dankbar, als diese Kompendien erschienen. Als ich mein Studium begann, da gab es noch keine solchen Bücher. Professor Heinrich Rettig lehrte uns mit großer Hingabe in »Baukonstruktionslehre«, die damals noch »Werklehre« hieß. Da er keine geeigneten Bücher zur Hand hatte, zog er sich einen weißen Kittel an und zeichnete in seiner hervor- ragenden Darstellungskunst die Baukonstruktionen an die Wandtafel. Wir Studenten bemühten uns, dies alles abzuzeichnen. Wir haben also Baukonstruktionen nicht aus Büchern gelernt, sondern zeichnend und hörend von unserem hochverehrten Heinrich Rettig, dessen sympathisch näselnde Stimme mir heute noch, nach so vielen Jahrzehnten, in den Ohren klingt. Als dann im Jahr 1952 Mittags »Baukonstruktionen« erschien, waren wir enorm überrascht, weil wir erkannten, dass mit diesem Buch eine völlig neue Zeit angebrochen war. Bald darauf erschien Wiels Lehrblattsammlung »Baukonstruktionen unter Anwendung der Maßordnung im Hochbau«, die wir den »Wiel« nannten. Zunächst haben wir Studenten die Bücher mit Neugierde gekauft. Bald ließen sie einen dann nicht mehr los, selbst später gebrauchte man sie fast täglich bei der Arbeit, für Planungen und Projekte der Architektur. Sie waren als unentbehrliches »Werkzeug« immer in der Nähe. Aber unter diesen Fach- und Lehrbüchern im Bauwesen gibt es einige einsame Gipfel. Karl Wilhelm Ochs in seinem Arbeitszimmer an der TH Dres- den, 1950
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1