Leseprobe
202 ANNE VIETH Der Galerieraum als zeitlose Bühne ALFRED H. BARR JR . UND DER MYTHOS DES WHITE CUBE Der White Cube gilt als führende Präsentationsform moderner und zeitgenössischer Bildender Kunst. Zum Galerieraum des 19. Jahrhunderts könnte der visuelle Kontrast kaum größer sein: Kahle und weiße Wände sind das wichtigste Merkmal dieses Ausstellungsdisplays. Grundsätzlich sollte der Raum dafür klare, rechtwinklige Strukturen und keine deko- rativen Elemente aufweisen, Fenster und Türen auf ein Minimum redu- ziert und das Licht möglichst gleichmäßig und der Bodenbelag einheit- lich und zurückhaltend sein. Genau solche und leicht abgewandelte weiße Container lassen sich weltweit im Ausstellungsbetrieb finden. Museen und kommerzielle Galerien für bildende Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts richten ihre Räume und Raumabfolgen mehrheitlich nach den Konventionen des White Cube ein ( ° ABB. S. 203) . Den Begriff »White Cube« prägte der Kunstkritiker und Künstler Brian O’Doherty 1976 in der dreiteiligen Artikelserie »Inside the White Cube«, die in der US-amerikanischen Zeitschrift »Artforum« erschien. 1 »Eine Galerie [für die Präsentation moderner Kunst] wird nach Geset- zen errichtet, die so streng sind wie diejenigen, die für eine mittel- alterliche Kirche galten. Die äußere Welt darf nicht hereingelassen werden, deswegen werden Fenster normalerweise verdunkelt. Die Wände sind weiß getüncht. Die Decke wird zur Lichtquelle. Der Fuß- boden bleibt entweder blank poliertes Holz, so daß man jeden Schritt hört, oder aber er wird mit Teppichboden belegt, so daß man geräuschlos einhergeht und die Füße sich ausruhen, während die Augen an der Wand heften. Die Kunst hat hier die Freiheit, wie man so sagt, ›ihr eigenes Leben zu leben‹. [. . . ] In dieser Umgebung wird ein Standaschenbecher fast zu einem sakralen Gegenstand, ebenso wie der Feuerlöscher in einemmodernen Museum einfach nicht mehr wie ein Feuerlöscher aussieht, sondern wie ein ästhetisches Scherz- rätsel. Hier erreicht die Moderne die endgültige Umwandlung der Alltagswahrnehmung zu einer Wahrnehmung rein formaler Werte.« 2 O’Doherty nimmt in Beobachtungen wie diesen nicht nur die archi-
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