Leseprobe

50 D er Ursprung der Schatzkammersammlung des Grünen Gewölbes liegt im 16. Jahr- hundert und damit in der Renaissance. Das Grüne Gewölbe besitzt aber auch eine kleine, sehr qualitätsvolle Sammlung mittelalterlicher Kunstwerke. Ihre geringe Anzahl mag zunächst verwundern, da doch in Sachsen seit dem Ende des 12. Jahr- hunderts enorme Mengen Silber gefördert wurden. Sie begründet sich aber aus den kul- turellen und politischen Umwälzungen der Reformationszeit, in der die katholischen Kirchenschätze des Landes weitgehend vernichtet wurden. Auch das bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts recht seltene Repräsentationssilber schmolz man zum größten Teil ein, da seine spätgotischen Formen dem neuen künstlerischen Selbstverständnis störend erschienen. Es verblieben im Schatz der sächsischen Fürsten aber Stücke, denen man eine ursprüngliche religiöse Bestimmung nicht ansah und deren geringer Edelmetallanteil die Zerstörung nicht lohnte. Dazu gehört auch der schon durch seine Höhe eindrucksvolle Deckelpokal aus Berg- kristall und vergoldetem Silber. Er zählt nicht nur zu den frühen Zeugnissen veneziani- schen Bergkristallschliffs, er ist auch einer der ältesten profan genutzten Deckelpokale, der erhalten und heute nachweisbar ist. Die konisch sich erweiternde Kuppa aus 16 abwechselnd schmalen und breiten Facetten, die den Glanz und die Lichtreflexion er­ heblich steigern, lässt ihn zudem zum ältesten erhaltenen Bergkristallbecher mit dieser Schliffform werden. Facettierte Becher mit geschliffenem Boden sind erst seit Ende des 13. Jahrhunderts archivalisch nachweisbar. Das Trinkgefäß ist ausgesprochen prächtig mit zeittypischem venezianischem Silberfiligran gefasst. Der von einem hohen Knauf mit drei Schlangenköpfen bekrönte Pokaldeckel nimmt die Ornamentmotive und den Edel- steinbesatz des Fußes wieder auf. Der halbkugelige Deckel besteht nicht aus Bergkristall, sondern aus Glas. Als der Pokal angefertigt wurde, hatte man gerade die technologisch anspruchsvolle Glasproduktion, für die Venedig bereits berühmt war, aus Sicherheits- gründen auf die Insel Murano verlagert. Die sorgfältige Gestaltung und Größe dieses seltenen Trinkgefäßes des späten 13. Jahrhunderts weist auf einen königlichen Besitzer hin. Er entstand in einer Zeit, als Marco Polo von seiner Chinareise zurückkam und im nördlichen Teil Europas die großen gotischen Kathedralen errichtet wurden. Dieser Berg- kristallpokal ist bereits im ersten Dresdner Schatzkammerinventar von 1586/87 ver- zeichnet und gehört damit zu den frühesten Schatzkunstobjekten der Sammlung. Hoher Deckelpokal Bergkristall, Glas, Silber, vergoldet, Perlen, Türkise, Chrysoprase, Granate Schliff und Goldschmiede- arbeit: Venedig, um 1290 H. 48,2 cm/Inv.-Nr. V 231 √ Obeliscus Augustalis, Detail siehe S. 229

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