Leseprobe

76 D ass Wenzel Jamnitzer ein außergewöhnlich kreativer, wissenschaftlich interes- sierter Goldschmied war, der die engen Grenzen seiner Zunft mit virtuosen Kunstwerken überwand, belegt neben der Schreibkassette ein weiteres Werk im Grünen Gewölbe. Dieses wurde zwar von seinem Sohn Abraham Jamnitzer ausgeführt, geht aber unmittelbar auf Entwurf und Modell des Vaters zurück. Es handelt sich um die kostbare Silberstatuette der Daphne. Der Mythos der kleinasiatischen Nymphe wird im ersten Buch der Metamorphosen des antiken Dichters Ovid geschildert. Dieser beschreibt, wie Amor mit einem goldenen Pfeil das Herz des Gottes Apollo für die schöne, keusche Nymphe Daphne entflammte und in ihr gleichzeitig mit einem bleiernen Pfeil die Ableh­ nung für den Gott erweckte. Als sie sich den vehementen Nachstellungen des Gottes des Lichts, der Weissagung und der Künste nicht mehr erwehren konnte, verwandelte ihr Vater sie auf ihr Flehen hin in einen Lorbeerbaum. Dies ist der Moment, den die Silber- statue darstellt: Wie erstarrt steht die junge, reich bekleidete Nymphe da. Aus ihren Händen und aus ihrem Haupt sprießt das Gezweig eines Baumes, durch den sie für immer aus dem Bereich der Menschen und Götter in den der Natur überwechselt. Zur Herstellung dieser prachtvollen Silberplastik griff Abraham Jamnitzer auf die Gussform seines Vaters Wenzel zurück und verband diese, wie sein Vater, mit einem der damals sehr seltenen, stark verzweigten Korallenzinken. Das ist ausgesprochen tiefsinnig, denn so wie Daphne sich gemäß den Metamorphosen des Ovid von einer Nymphe in menschlicher Gestalt in einen Baum verwandelte, so hatten sich die Blutstropfen aus dem von Perseus abgeschlagenen Haupt der Medusa im Mittelmeer in Korallen verwandelt. Korallen waren Kunstkammerobjekte par excellence, denn nach dem Verständnis der Zeit vereinigten sich in ihnen Mineral, Tier und Pflanze – und damit die drei Naturreiche. Die erste Daphne Wenzel Jamnitzers, die nach Untersuchungen der Beschauzeichen zwischen 1571 und 1575 entstanden ist, war möglicherweise im Besitz Kaiser Maximi- lians II., eines sehr engen Jugendfreundes des sächsischen Kurfürsten. Sie befindet sich heute im Musée national de la Renaissance im Château d’Écouen bei Paris. Die im Grünen Gewölbe aufbewahrte Daphne kann erst nach 1579 entstanden sein, weil Abraham Jam- nitzer erst in diesem Jahr Goldschmiedemeister wurde und seine Meistermarke führen durfte. Die von ihm geschaffene Wiederholung ist gleichfalls von höchster Qualität, sehr sorgfältig ziseliert und graviert. Der von Abraham Jamnitzer verwendete Korallenzinken, der die Verwandlung deutlich macht, ist besonders breit, vielgliedrig und schön geformt. Der einstmals mit grünbemalten Silberblättern bestückte Korallenzinken verleiht der anti- kisierenden Figur den Charakter eines genuinen Kunstkammerstücks, vereint sie doch eine seltene, besonders ästhetische Hervorbringung der Natur mit dem schöpferischen Produkt menschlicher Kunstfertigkeit. In Dresden war die Daphne allerdings von Anfang an im Grünen Gewölbe, wie der Eintrag im ersten Schatzkammerinventar von 1586/87 belegt: »1 Silbern brust bilt von einer Jungfrau, mit einem großen gewechß von Corallen Zincken.« Statuette der Nymphe Daphne Silber, größtenteils vergoldet, Koralle Entwurf: Wenzel Jamnitzer Goldschmiedearbeit: Abraham Jamnitzer Nürnberg, 1579/80– 1587 H. 64,6 cm/Inv.-Nr. IV 260

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1