Leseprobe

212 D er Schöpfer des spektakulärsten Goldschmiedekunstwerks des Spätbarock war sich ganz sicher, dass »dergleichen Arbeit noch niehmaln von einem Künstler ist vorgestellt worden, auch nach der Zeit nicht geschehen wird«. Johann Melchior Dinglinger holte den Reichtum und die Pracht des Orients mit der Darstellung der fünf- tägigen Geburtstagsfeier des indischen Großmoguls Muhammad Aurangzeb in die Schatz- kammer Augusts des Starken. Doch ist es nicht allein der den Zeitgenossen bekannte mongolisch-islamische Herrscher, der uneingeschränkt über fast den ganzen indischen Subkontinent herrschte, unfassbaren Reichtum besaß und darüber hinaus Herr über die einzigen damals bekannten Fundstellen von Diamanten war. Es ist der sagenhafte Ferne Osten insgesamt, vom damaligen Persien bis China, der in diesem bezaubernden Kunst- werk gefeiert wird. Dessen Realisation waren umfangreiche Recherchen durch Johann Melchior Dinglinger in illustrierten Reisewerken sowie völkerkundlichen und kunst- geschichtlichen Berichten vorausgegangen, denn der Hofjuwelier legte Wert auf exakte und wirklichkeitsnahe Darstellung. So entstand noch vor Beginn der Aufklärung des spä­ ten 18. Jahrhunderts eine der Enzyklopädie – oder der heutigen Wikipedia – gemäße Zu­ sammenfassung des gesamten europäischen Wissens. Der Großmogul Aureng-Zeb lädt zur Audienz, und die großen Fürsten und mächti- gen Ministerialen seines gewaltigen Reiches nähern sich ihm mit Geschenken und voll Ehrerbietung. 1701 begann Johann Melchior Dinglinger mit dieser exotischen Bühne der Macht und dies ohne königlichen Auftrag, nur »encouragiert« durch August den Starken. Sieben Jahre später, 1708, hatte Johann Melchior Dinglinger mit seinen beiden Brüdern und zahlreichen Helfern den europäischen Traum vom überquellenden Reichtum des Orients, bestehend aus einer über einen Quadratmeter großen, architektonisch gestaffel­ ten Bühne, 132 Figuren aus Goldemail und 32 miniaturhaft feinen Geschenkgegenstän­ den, in Dresden vollendet. Dinglingers Thron des Großmoguls Aureng-Zeb umstrahlen 4 909 Diamanten, 160 Rubinen, 164 Smaragde, ein Saphir, 16 Perlen und zwei Kameen (391 Edelsteine und Perlen sind im Lauf der Zeit abhandengekommen). Bereits auf der Leipziger Michaelismesse des Jahres 1707 offerierte Dinglinger sein Werk August dem Starken zum ersten Mal und fügte seinem Werbeschreiben auch gleich die detaillierte Rechnung über 58 485 Talern hinzu. Doch damals war der Kurfürst von Sachsen ein König ohne Land, denn er hatte, gezwungen vom schwedischen König, im September 1706 auf Polen-Litauen verzichten müssen. Am 6. Februar 1709 bestätigte der Oberhof- marschall dann, »daß vorher emelter Mogol nebst seinem prächtigen Thron, Figuren und Praesenten, vor Sr. Königl Majt umb Sechzig Tausend Thaler behandelt, alsdenn mit allem Zubehör […] zu der Geh. Verwahrung richtig und accurat geliefert worden«. August der Starke brauchte den sagenhaften orientalischen Glanz, denn für den Mai 1709 hatte sich sein Vetter, der dänische König Frederik IV., zum Besuch angesagt. Für die Dinglingers war das hohe Risiko aufgegangen. Der Thron des Großmoguls war nun das teuerste Kunstwerk seiner Epoche und die Geheime Verwahrung im Grünen Gewölbe auf dem Weg zum Schatzkammermuseum. √ Thron des Groß­ moguls Aureng-Zeb Holzkern, Gold, Silber, teil- weise vergoldet, Email, Edel- steine, Perlen, Lackmalerei Entwurf: Johann Melchior Dinglinger Goldschmiedearbeit: Johann Melchior Dinglinger und Werkstatt Emailmalerei: Georg Friedrich Dinglinger Dresden, 1701 – 1708 H. 58,0 cm, B. 142,0 cm, T. 114,0 cm/Inv.-Nr. VIII 204 siehe S. 210 f.

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