Leseprobe
42 5. Stilistische und bautypologische Einordnung gehen kann, sollte dennoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass im Fall der Marienkirche die Zahl Vier be- sonders ins Auge fällt. Nicht nur die vier Konchen, son- dern vor allem auch die vier Türme werden für manch einen Betrachter von Bedeutung gewesen sein, da die Zahl für Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Elemente, Evangelisten, Kirchenväter und Vieles mehr stand und damit die Ordnung der Welt widerspiegelte.172 Die Form des Vierpasses selbst lässt sich nicht nur bei Ge- bäudegrundrissen wiederfinden, sondern sie stellte bei sämtlichen Medien des Mittelalters ein beliebtes Motiv dar. Vierpässe wurden bekanntlich bei gotischen Maß- werkfenstern, liturgischem Gerät (Abb. 28) aber auch bei Brunnen und Taufbecken angewandt, wie jenes in der Krypta des Doms von Speyer (Abb. 29) und ein wohl ähnliches Becken aus dem 10. Jahrhundert in der Stifts- kirche St. Servatius in Quedlinburg zeigen.173 In Ro- thenburg ob der Tauber entspricht der viele Jahre später erbaute Herrenbrunnen ebenfalls dieser Form. Auf diese Medien und ihre wechselseitigen Beziehungen kann al- lerdings nicht näher eingegangen werden. Vergleiche sollen nur zu anderen Gebäudegrundrissen, und zwar ausschließlich zu Sakralbauten, gezogen werden. Verblüffende Parallelen findet man zum Beispiel bei by- zantinischen und byzantinisch beeinflussten Kreuzkup- pelkirchen. Götz führt, mit Verweis auf die Arbeit des Kunsthistorikers Josef Strzygowski, unter anderem ar menische Kirchen in Bagaran (624‒631, Abb. 30) und Etschmiadzin (um 618, Abb. 31) an.174 Sie sind auf na- hezu quadratischen Grundrissen errichtet. Vier Mittel- stützen teilen den Raum in neun Joche. An allen vier Seiten gliedern sich Konchen an, die außen eckig um- mantelt sind. Es gibt jedoch auch Beispiele aus Frank- reich oder Italien, die ganz ähnlich anmutende Grund- risse aufweisen, wie Germigny-des-Prés (geweiht 806, Abb. 32, 33)175 sowie S. Satiro in Mailand (2. Hälfte 9. Jahrhundert, Abb. 34) oder S. Maria del Tiglio in Gra- vedona.176 Das äußere Erscheinungsbild unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von dem der Brandenburger Marienkirche, da sich bei all diesen Kirchen nicht über den Eckjochen Türme erheben, sondern das Mittelqua- drat von einer steilen Kuppel akzentuiert wird. Zudem 172 Siehe Naredi-Rainer 2013, S. 17; siehe auch Bandmann 1962, S. 390. 173 Siehe Kosch 2011, S. 71. 174 Siehe Götz 1968, S. 90. 175 Vgl. ebda. 176 Siehe Schürer 1929, S. 184, Abb. Abb. 29: Speyer, Dom, Taufbecken in der Krypta, um 1100, Kosch 2011, S. 71.
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