Leseprobe
44 5. Stilistische und bautypologische Einordnung unterteilen auch keine Emporen den Raum in zwei Ge- schosse. Hätte der Baumeister diese Bauten rezipieren wollen, so hätte er vermutlich nicht gerade auf das mar- kanteste Merkmal, nämlich die Kuppel, oder zumindest einen Vierungsturm, verzichtet. Eine Ausnahme stellt S. Lorenzo in Mailand dar (Ursprungsbau 3. Viertel 4. Jahrhundert, Abb. 35, 36), einer der wenigen Zentral- bauten, der an allen vier Ecken quadratische Türme auf- weist. Scheja hält direkte byzantinische Einflüsse für un- wahrscheinlich, da »dem Breitraum in der harlunger Bergkirche [...] eine abendländische Idee des Querschiffs zugrunde [liegt, H.-M.]. Es ist eine Ausweitung des Rau- mes, die auch das Quadrat der Stützen zu einem Recht- eck verschob. Die byzantinischen Kirchen tasten das Quadrat der Stützen nicht an.«177 Dennoch hält er es für möglich, dass der Bauherr diese Kirchen kannte und die Idee des Zentralbaus durch diese vermittelt wurde. Ein möglicher Transfer der Formen könnte während der Kreuzzüge stattgefunden haben oder eben über Vermitt- lerbauten in Italien.178 Direkte italienische Einflüsse sind durchaus vorstellbar, da sich Bischof Gernand, der bei den Planungen wahrscheinlich beteiligt war, mehrere Jahre in Italien aufgehalten hatte.179 Zudem wurden deutliche italienische Einflüsse beispielsweise auch bei den allerdings schon im 12. Jahrhundert begonnenen Kirchen in Jerichow oder Dobrilugk festgestellt.180 In der Literatur wird neben den byzantinischen Kirchen- bauten aber auch oft auf einen möglichen Einfluss der rheinischen Dreikonchenchöre auf die Marienkirche ver- wiesen.181 Es gibt eine Reihe von kölnischen und köl- nisch beeinflussten Sakralbauten, an deren Langhäuser eine Ostanlage in Form eines Kleeblattes mit an allen drei Seiten gleich großen Konchen anschließt:182 Die Damenstiftskirche St. Maria im Kapitol (1065 geweiht, Abb. 37),183 die Stiftskirche St. Aposteln (Dreikonchen- chor mit Vierungskuppel um 1200), die Benediktiner- abteikirche Groß St. Martin (Neubau nach 1150) sowie die Stiftskirchen St. Georg (Neubau des Westchores 1180‒ 1188) und St. Andreas (Neubau erste Hälfte 13. Jahrhundert).184 Zwei ausgeprägte Konchen an den Querhausarmen hat auch die Kathedrale Notre-Dame in Tournai (2. Hälfte 12. Jahrhundert), die sogar jeweils von zwei Türmen flankiert werden. Während der Grundriss der Brandenburger Marienkirche ‒ nicht allein die Apsis mit den drei Apsidiolen, sondern der gesamte Grund- riss (!) ‒ zunächst an ebendiese Disposition erinnert, muss der Raumeindruck aber ein völlig anderer gewesen sein. Die Apsis ist geradezu hinter dem östlichen Kreuz- arm, über dem sich die Empore erstreckt, versteckt und durch die Treppenaufgänge zusätzlich eingeengt. Ihr Raum muss zudem durch die niedrigen angrenzenden Abb. 34: Mailand, Grundriss von S. Satiro, zweite Hälfte 9. Jahr- hundert, an den kleinen Zentralbau (links) wurde später direkt die Marienkirche angegliedert, die Kapelle wurde nachträglich rund ummantelt, Markschies 2003, S. 32. 177 Scheja 1939, S. 63 f. 178 Siehe ebda., S. 63; Eichholz 1912, S. LXVI. Die Einflüsse und der Austausch zwischen Baumeistern armenischer Kirchenbauten des 6. bis 10. Jahrhunderts und denen westlicher Gebiete, wie dem Hei- ligen Römischen Reich, sind bislang noch nicht hinreichend unter- sucht worden. Die Meinungen hinsichtlich des Einflusses auf die westliche Architektur gehen sehr stark auseinander. Siehe Winter- feld 2005, S. 5. 179 Siehe im Kapitel 3.3 »Das Domkapitel als Auftraggeber«. 180 Die Kirche in Jerichow weist etliche Gemeinsamkeiten mit S. Maria Maggiore in Lomello (Lombardei) auf, Dobrilugk zu Kir- chen in Cremona. Siehe Cante 2016, S. 19‒23; auch Schrage/ Agthe 2007, S. 431. 181 Siehe Böker 1988, S. 80; Scheja 1939, S. 64. 182 Siehe dazu Kosch 2000; Nussbaum 21994, S. 24 f. 183 Ob als Vorbild für St. Maria im Kapitol, die älteste in dieser Gruppe mit Dreikonchenchor, die Geburtskirche in Betlehem aus dem 6./7. Jahrhundert gedient hat, ist in der Forschung umstritten. Kier (2005, S. 72) und Brachmann (2014, S. 155) sprechen sich für die Vorbildfunktion aus. Untermann (1989, S. 20) hält dies für unwahrscheinlich und sieht eher Parallelen in den gerade ge- schlossenen Kreuzarmen der Abteikirchen von Stablo und Brau- weiler. 184 Kier 2005, S. 71‒74.
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