Leseprobe

7.1 Überlegungen zum »doppelstöckigen Kult« der Prämonstratenser 69 diese Situation bereits im 13. Jahrhundert bestand.295 Es ist deshalb sehr fragwürdig, ob die Hochchöre ‒ und damit auch die Ostempore in der Marienkirche ‒ in Zu- sammenhang mit den seelsorgerischen Tätigkeiten der Prämonstratenser standen. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Ostempore und der Chorsituation der erwähnten anderen Prämons- tratenserkirchen gegeben haben könnte, scheint jedoch trotzdem zunächst naheliegend. Es sei noch einmal daran erinnert, dass die Hochchöre dort erst nachträglich ein- gebaut wurden. Damit drängt sich der Gedanke auf, dass es in dieser Zeit zu Veränderungen in der Liturgie kam, die Einfluss auf die Nutzung des Kirchenbaus hatten. Dies nimmt auch Untermann an, der aber darauf hin- weist, dass die Einrichtung eines hochgelegenen Lang- chores auch in Kirchen anderer Orden im gesamten Reich unternommen wurde und keine speziell prämons- tratensische Eigenheit darstellt.296 Viele Hochchöre reichten bis zum Vierungsjoch, das imWesten mit einer Lettnerbühne abschloss. Der Autor hält es, und dies passt zu Eichholz’ Einschätzung, für möglich, dass mit den nachträglichen Einbauten eine Vergrößerung des Rau- mes für das Domkapitel und eine stärkere Abgrenzung der Chorherren von den Laien im Langhaus bezweckt werden sollte. Die den Hochchören als Unterbau dienen- den Krypten hatten, so Untermann, oftmals keine eigene liturgische Funktion. Grund für diese Annahme gibt bei- spielsweise die Tatsache, dass nach dem Einbau des Hochchores im Ratzeburger Dom der Bereich unter dem Chor zugeschüttet wurde.297 Der Augustinus-Altar in der Krypta des Brandenburger Domes wurde vermutlich erst 1333 geweiht. Untermann stellt deshalb in Frage, dass es bereits von Beginn an einen Altar in der Krypta gegeben hat. Er mutmaßt, wie auch Eichholz, dass dieser Ort als Gruftkirche fungierte.298 Nun wäre zu überlegen, ob sich diese Eigenheiten auf die Marienkirche übertragen lassen. Nimmt man eine ähn- liche Funktion der Bauteile an, so würde es sich bei der Ostempore um den Hochchor handeln. Der Raum darun­ ter wäre sozusagen die Krypta. Vorstellbar ist durchaus, dass die Priester und eine kleine Anzahl von Chorherren sich zum ungestörten Feiern der Messen ins obere Ge- schoss zurückzogen, während sich die Laien in der unte- ren Ebene aufhalten konnten. Wahrscheinlich meint die in der Urkunde von vor 1389 genannte Krypta genau diesen Bereich unter der östlichen Emporenzone.299 Da es sich bei den Kirchen mit Hochchören aber weitest- gehend um Stiftskirchen handelt, die auf die Liturgie einer größeren Anzahl von Chorherren ausgerichtet wa- ren, ist ein direkter Zusammenhang eher fraglich. Den- noch muss berücksichtigt werden, dass die Ausstattung einer Kirche nicht zwangsläufig in einen direkten Zu- sammenhang mit ihrer Funktion gebracht werden kann. Wie bereits erwähnt, wurden beispielsweise auch in man- chen Dorfkirchen Lettner errichtet. Vielleicht war eher, wie bereits im Kapitel zu den Doppelkapellen überlegt, eine Vorliebe der Zeit für die vertikale Anordnung der Altäre und das Bestreben, durch die Anordnung der ver- schiedenen Altäre im Kirchenraum die »personale himm- lische Hierarchie« darzustellen, wirksam, wie es schon der Kunsthistoriker Günter Bandmann formulierte.300 Gerade in einem Zentralbau machte eine zweite Ebene auch deshalb Sinn, um die Aufnahmekapazität zu ver- größern und voneinander getrennte Räume zu schaffen, die aber zugleich akustisch miteinander verbunden wa- ren.301 Neben Bereichen für Laien und Priester wird es 295  Eichholz (1912, S. 228) macht zudem auf die Schwierigkeit aufmerksam, die zunächst entstanden sei, als 1357 der Ablass auf die Verehrung des Kreuzes vergeben wurde. Die breite Westtreppe wurde nämlich erst 1648 eingebaut, sodass zu jener Zeit die Zugänge zum Chor auf der Nord- und Südseite, von denen Scheja meint, sie müs- sen vom Volk genutzt worden sein, nicht für größere Gruppen ge- eignet waren. 296  Siehe Untermann 1984, S. 358. 297  Siehe ebda., S. 278; ders. 2009, S. 55. Zum gleichen Schluss kommt auch Siebenhüner (1966, S. 171 f.) in seinem Aufsatz zur Ostkrypta des Bamberger Domes. 298  Siehe Untermann 1984, S. 278 sowie S. 552, Anm. 1488; Eich- holz 1912, S. 229. Eichholz (1912, S. 256 f.) vermutet, dass die Krypta seit ihrer Entstehung einen Augustinus-Altar beherbergte und es sich bei der Stiftung aus dem Jahr 1333 um eine Neuweihe nach Umbaumaßnahmen handelte. Gertler, der die Krypta des Branden- burger Doms wesentlich früher datiert, nämlich kurz nach der Weihe des Doms um 1166, findet eine ganz andere Begründung für den Einbau des Hochchores. Nach dieser Neudatierung bezweifelt er, dass der Hochchor und die Krypta ursprünglich für den Prämonstraten- serorden geplant waren. Der Umzug der Prämonstratenser von der Gotthardtkirche zum Dom war wohl nicht von langer Hand geplant gewesen, wie einer Urkunde des Bischofs zu entnehmen ist. Der Au- tor vermutet deshalb, »dass der Baugedanke [...] sich eher mit dem dynastischen Repräsentationsbedürfnis und Ahnenkult der zu Reichs- fürsten im Range von Kämmerern des Reiches aufgestiegenen Aska- nier verbinden lässt als mit einer den traditionellen Kryptabau kri- tisch begegnenden reformatorischen Baugesinnung, die wir beim Domkapitel vorauszusetzen haben« (Gertler 2015, S. 64). Allerdings führt der Autor diese zweifelhafte These nicht näher aus. Allein die Behauptung, der Orden hätte Krypten kritisch gegenübergestanden, ist unzutreffend. In anderen Prämonstratenserkirchen wurden ja, wie erwähnt, mehrfach vergleichbare Hochchöre eingebaut. 299  Siehe Schössler 1998, S. 303. Vgl. auch S. 63, Anm. 265. 300  Siehe Bandmann 1962, S. 380. 301 Vgl. Feurer 1980, S. 160.

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