Leseprobe
7 1. Einleitung Von der einstigen Marienkirche auf dem Harlungerberg in Brandenburg an der Havel zeugen nur noch wenige bauliche Fragmente sowie bildliche und schriftliche Quellen, da der Bau zwischen 1722 und 1723 im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (reg. 1713‒1740) abgerissen wurde.1 Die mittelalterliche Kir- che hatte im Zuge der Reformation und mit der Auf lösung des dort ansässigen Prämonstratenserstiftes ihre Funktion verloren und war zunehmend baufällig gewor- den. Immerhin wurden noch vor dem Abriss Messungen vorgenommen und Zeichnungen angefertigt.2 Die Bildquellen, deren früheste aus dem 16. Jahrhundert stammt, zeigen einen sehr bemerkenswerten Bau: Es handelt sich um eine zentralbauartige Kirche, die an al- len vier Seiten mit Konchen abschließt und von vier Türmen bekrönt wird (Abb. 1). Aufgrund einer Ablass- urkunde aus dem Jahr 1222 ist gesichert, dass bereits An- fang des 13. Jahrhunderts eine neue Kirche an der Stelle des Vorgängerbaus aus dem 12. Jahrhundert errichtet wurde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesem Neubau um den Zentralbau, der durch die Bild- quellen überliefert ist. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass in den folgenden Jahrhunderten kleinere Veränderungen vorgenommen wurden. Bis heute ist in der Forschungsliteratur die These weit verbreitet, dass die Marienkirche eine der ältesten und bekanntesten Wallfahrtskirchen der Mark Brandenburg gewesen sei. Nach der Auffassung vieler Historiker und Kunsthistoriker habe es zu Beginn des 13. Jahrhunderts einen so großen Zulauf von Wallfahrern gegeben, dass der Platz imVorgängerbau nicht mehr ausreichte und ein größerer Neubau notwendig geworden sei. Zudem soll auch die Architektur ebendiese Funktion widergespiegelt haben. So konnten, laut Joachim Müller, »die Besucher- ströme ins Obergeschoss der Türme gelangen und über in der Wandstärke der Konchen liegenden Laufgänge den Raum vor der Ostapsis erreichen, in der sich das wundertätige Marienbild wahrscheinlich befand. Die Marienkirche ist in ihrer inneren Organisation perfekt auf das geregelte Hindurchschleusen großer Pilgerströme ausgelegt und ist insofern mit Sicherheit als Wallfahrts- kirche konzipiert.«3 Anlass zu der These, dass die Marien 1 Die Steine wollte König Friedrich Wilhelm I. für Neubauten in Potsdam verwenden. Siehe u. a. Fromme 1727, S. 167 und Heffter 1840, S. 389. Nach Adler (1862, S. 6) wurden sie vor allem für die Errichtung der Waisenhäuser in Potsdam genutzt. Seebacher/Gahl- beck/Müller (2010, S. 307) nennen noch weitere Häuser in Bran- denburg a. d. Havel, für die die Steine verwendet wurden. Angeblich unternahm der König den Abriss auch deshalb, weil er hoffte, unter der Kirche Schätze zu entdecken. Man habe aber »nichts als eine Puppe mit einem seidenen Gewande« (Heffter 1840, S. 389) ge- funden. 2 Der Geschichte des Abrisses sowie des weiteren Umgangs mit die- sem geschichtsträchtigen Ort ‒ Mitte des 19. Jahrhunderts zog Fried- rich Wilhelm IV. sogar einen Wiederaufbau in Betracht (Vgl. See- bacher 1996, S. 94 f.) ‒ konnte in der vorliegenden Arbeit nicht nachgegangen werden. 3 Müller 2015, S. 215. Im Kapitel zur Marienkirche im »Branden- burgischen Klosterbuch« schreibt Müller: »Die üppig dimensionier- ten Eingangshallen und der über die Wendeltreppen erreichbare voll- ständige Umgang im Obergeschoß weisen deutlich auf die Funktion der Marienkirche als Wallfahrtskirche hin, die von zahlreichen Pilgern besucht wurde.« Seebacher/Gahlbeck/Müller 2007, S. 320. Um zu zeigen, wie stark diese These in der Forschung vertreten wird, seien hier einige weitere Zitate angeführt: »Binnen weniger Jahrzehnte ent- wickelte sich die Kirche zu einer berühmten Wallfahrtsstätte, deren Ruf auf ein wundertätiges Marienbild zurückging. Späteren Urkun- den zufolge erlangte die Kirche auf dem Harlungerberg damals eine weit über die Mark hinausreichende, sich angeblich über ganz Deutschland erstreckende Bedeutung. Der Zulauf an Gläubigen war offenbar so groß, daß das Domstift um 1220 das ursprüngliche Kirchengebäude durch einen prächtigen Neubau ersetzen ließ [...]. Im Lauf der darauffolgenden 200 Jahre verlor die Kirche jedoch allmählich an Ausstrahlungskraft und sank auf den Rang eines Wallfahrtsortes von mehr oder minder regionaler Bedeutung herab, der im 14. Jahrhundert zunehmend unter der Konkurrenz jüngerer Wallfahrtsstätten zu leiden hatte.« Seebacher/Gahlbeck/Müller 2007, S. 308; »Die eigentliche Aufgabe der Marienkirche auf dem Harlunger Berg war die einer Wallfahrtskirche, weniger die einer Pfarrkirche, obwohl an der Kirche ein Pfarrer installiert war.«Woch- nik 2010, S. 92; »Nachdem sich zu dem wundertätigen Marienbild eine rege Wallfahrt entwickelt hatte, wurde etwa 1230 ein Neubau errichtet.« Müller 2007, S. 221; »Die dem prämonstratensischen Domkapitel in Brandenburg unterstehende, schon im 12. Jahr hundert nachweisbare Marienkirche dürfte die älteste Wallfahrtskir- che des Landes gewesen sein.« Escher 2002/2003, S. 44; »Wie viele
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