Leseprobe
9 werden können. Den Abschluss dieses ersten Teils bildet das Kapitel zu den erhaltenen schriftlichen Quellen aus dem 14. Jahrhundert, die Hinweise zu den Feiertagen ge- ben, die in der Marienkirche zelebriert wurden. Damit kann direkt zum zweiten Teil der Arbeit übergeleitet wer- den, in dem die Frage nach der Disposition, Baumotiva- tion und Nutzung der Kirche diskutiert wird. Zu Beginn soll der These des Kunsthistorikers Georg Scheja nach- gegangen werden, der in der Wallfahrt nur eine Teilfunk- tion sieht und die Disposition der Marienkirche, insbe- sondere die Ostempore, mit einer Vorliebe der Prämons- tratenser zum doppelstöckigen Kult in Zusammenhang bringt. Es folgt das umfangreiche Kapitel zur Wallfahrt und Wallfahrtsarchitektur, in dem zunächst die begriff- liche Problematik sowie die Entwicklung des Wallfahrt- wesens dargelegt werden. Nach der Erörterung der Frage, ob die Marienkirche Ziel von Wallfahrten gewesen sein kann, soll schließlich untersucht werden, ob es überhaupt im Mittelalter eine spezielle Wallfahrtsarchitektur gege- ben hat, und inwieweit die Marienkirche eine typische Wallfahrtsarchitektur aufweist. Im letzten Kapitel wird versucht, die Gestalt und Baumotivation der Marien kirche in einen anderen Zusammenhang zu bringen. Es soll überlegt werden, ob sie als Stations- beziehungsweise Festtagskirche fungiert haben könnte und ihre Bauinten- tion im Wesentlichen darin lag, die Kirchenfamilie des Bischofssitzes Brandenburg um einen der Gottesmutter würdigen Bau zu erweitern. kirche von Beginn an eine Wallfahrtskirche war, geben neben der außergewöhnlichen Gestalt nur wenige Quel- len aus dem 14. Jahrhundert sowie der Umstand, dass sie weder eine Stifts- noch Pfarrkirche der Stadt war und ihr damit scheinbar keine eindeutige Funktion zugewiesen werden kann ‒ das der Kirche eigene Prämonstratenser- stift gründete Kurfürst Friedrich I. erst im Jahr 1435. Wie Müller selbst einräumt, fehlen aber Quellen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die die Nutzung als Wallfahrts kirche belegen könnten.4 In der vorliegenden Arbeit soll deshalb kritisch überprüft werden, wie wahrscheinlich es ist, dass die Disposition des Baus auf die Funktion als Wallfahrtskirche ausgerich- tet war, und ob möglicherweise auch andere Intentionen für die Nutzung der Kirche und die Wahl der Architek- turformen in Betracht gezogen werden können. Dies soll unter besonderer Berücksichtigung der Architektur, der überlieferten Quellen sowie des historischen und kunst- historischen Kontextes erfolgen. Ziel der Arbeit ist es nicht, eine neue Geschichte der Marienkirche zu schrei- ben, sondern vielmehr komplexe Zusammenhänge auf- zuzeigen, um gängige Thesen beurteilen und gegebenen- falls revidieren zu können. Für die historische Einordnung soll zunächst die Bauge- schichte des 12. und 13. Jahrhunderts dargelegt werden. Damit verbunden sind bereits für die Fragestellung wich- tige Überlegungen zum Auftraggeber und zur Baumo tivation. Es folgt eine ausführliche Beschreibung des Baus, wobei auch Überlegungen zur Raumausstattung und zu funktionalen Bereichen mit einbezogen werden. Anschließend folgt ein Kapitel zu stilistischen und bau- typologischen Vergleichen, um den Bau kunsthistorisch einordnen zu können und sich der Besonderheiten der Architektur bewusst zu werden. Der bautypologische Ver- gleich mit anderen Zentralbauten, wie den sogenannten Doppelkapellen, ist dabei von besonderem Interesse, da durch die Untersuchung der verschiedenen Funktionen und Nutzungskonzepte vergleichbarer Bautypen mögli- cherweise Rückschlüsse auf die Marienkirche gezogen andere Wallfahrtsheiligtümer stellt auch dieses Beispiel einen eklek- tizistischen Einzelfall dar, der ohne Nachfolge blieb.« Feurer 1980, S. 109; »Die Marienkirche ist als Wallfahrtskirche unter die frühesten überwiegend zu diesem Zweck errichteten monumentalen Bauwerke der deutschen Baukunst zu zählen.« Götz 1968, S. 90. Kahl (1964, S. 350) merkt an, dass die Kapelle sehr bald den »Rang einer bedeu- tendenWallfahrtskirche« hatte; »Da sie dem Andrang der Pilger nicht genügte, beschloß das Kapitel, sie zu vergrößern.« Beier 1954, S. 26; »Die Wallfahrtsstätte, bisher nur Teilfunktion des Gotteshauses, wird einzige Hauptfunktion, löst sich aus der Gesamtkirche los und schafft sich den eigenen Typus.« Schürer 1929, S. 183; »Nur diesem Hauptzwecke, an gewissen Tagen eine grosse Menge von Menschen, schauend und hörend aufnehmen zu können, verdankt sie ihre bau- liche Gestaltung, wenn es auch möglich ist, dass der Typus der von Pribislav erbauten Gruftkirche in der centralen Kreuzanlage traditio- nell erhalten ist. Unter Bezugnahme auf diese Rücksicht erscheinen die vielen Treppen, von denen zwei von der Geistlichkeit, zwei von den Ordensmitgliedern ausschliesslich benutzt wurden, ferner die Emporen nebst den Altären ebenso motiviert, wie die vier Thürme zur Aufnahme des zahlreichen Geläutes einer Wallfahrtskirche.« Adler 1862, S. 8. 4 Siehe Müller 2015, S. 221.
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