Leseprobe
36 genossen bei den berühmten Schriftstellertreffen in seiner Wohnung nur halb scherzhaft titulierten, am Kopf eines womöglich weißgedeckten festlichen Tischs vorstellen dürfen, das Glas erhoben, und die schlichten, eleganten und doch unauslotbar komplexen Verse des erstenQuartetts sprechend: »Rien, cette écume, vierge vers /Ane désigner que la coupe; / Telle loin se noie une troupe /De sirènes mainte à l’envers«, in einer notwendig dürftigen Übersetzung: »Nichts, dieser Schaum, jungfräulicher Vers /Nichts zu bezeichnen als diese Schale, / Von weitem nähert sich ein Heer / von Sirenen, rücklings verkehrt.« 6 Unüberhörbar ist die klangliche Nähe des letzten Worts, mit dem das klassisch ge- reimte Quartett betont schließt, zu »l’enfer«; es wäre dann »die Hölle«, in die sich die Sire- nen stürzen, als Echo zum erstenWort »Nichts«. Das Paradox der sich ertränkenden Sire- nen zitiert die Argonautensage, in der sie diesen Freitod wählen nachdem sie einsehen müssen, dass der Gesang des Orpheus ihrem eigenen betörenden Singen noch überlegen ist. Die Mischwesen aus Frau und Tier, die in der Antike auch vogelartige Gestalt haben können, sind hier somit wohl eher Nixen, mit Fischschwänzen sich schlängelnd, sprin- gend und untertauchend. 7 Diese Erscheinung gibt jedoch offenbar die gehobene Schale zu erkennen, in der man den durchsichtigen Schaum des Champagners vermuten darf, weiß, wie der jungfräuliche Vers, der sich hier mit der Anmut einer untertauchenden Meerjungfrau auf sich selbst zurückbiegt, »umnichts zu bezeichnen als eben diese Schale«, französisch »la Coupe«. Als Substantiv zum französischen Verb couper/schneiden ist das mehrdeutige Wort zudem mit seiner Platzierung am Versende zugleich der Einschnitt, von dem es auch spricht. 8 »Boire la coupe à la lie« ist jedoch auch eine feststehende französische Wendung, die wörtlich heißt, »den Kelch bis zur Neige zu leeren«, bezogen auf »la lie«, die »Weinhefe«, figurativ auch mit dem einstmals wertneutralen Wort Abschaum zu übersetzen. Am Grund der Schale ist somit ein anderes Schäumendes, durchsichtig wie die weiße Gischt, 6 Fischer übersetzt mit offensichtlich den Formvorgaben geschuldeten Abweichungen vom Wortsinn: »Ein Nichts, ein Schaum, keusch ein Gedicht, / nur ein Willkommenstrunk, ein scheuer, / Sirenen so im Schaumgischtfeuer/oft wenden fern noch das Gesicht«. Mallarmé: Salut/Gruß, V 1 – 4. Goebel übersetzt: »Nichts, dieser Schaum, der reine Vers/Nur Bezeichnung der Form des Kelches: / So ertränkt sich fern eine Herde/Von Sirenen, rückwärts zumeist.« Stéphane Mallarmé: Gruss, in: Gedichte. Französisch und Deutsch, übers. u. kommentiert v. Gerhard Goebel, Gerlingen 1993, S. 33. 7 Goebel betont, es werde »auf eine ganz bestimmte mythische Fahrt angespielt: die der Argonauten, genauer ihre Heimfahrt, die am Sirenenfelsen vorbeiführte. Anders als in der Odyssee begleitete der prototypische Dichter selbst, nämlich Orpheus, die Argonauten: durch seinen Gesang bezwang er die Sirenen, die sich daraufhin in den Abgrund stürzten.« Goebel: Kommentar, in: Mallarmé: Gedichte, S. 293. Vgl. Robert Ranke-Graves: Griechische Mythologie, Reinbek bei Hamburg 1984, § 154 d. 8 Für Goebel ist diese Doppeldeutigkeit auch das Indiz für eine weitreichendere Selbstreferentialität des Textes: »Die Selbstcharakteristik, mit der das Gedicht beginnt, wird man bei einem (ob als Toast oder Motto) jedenfalls repräsentativ gemeinten Text wohl auf die neue Poesie in toto ausdehnen müssen: sie ist ›nichts‹, nur Schaum, so sehr, daß [...] sie nichts be- zeichnet als die eigne metrische Ordnung, die eigne Form«. Goebel: Kommentar, in: Mallarmé: Gedichte, S. 293. 9 Im Ausbreiten des Abgrunds, das zugleich als Schlag eines riesigen Flügels figuriert, ist dieser »blanchi«/»weiß geworden«; weiße Gegenstände, die im großzügigemWeißraum der Doppelseite nur
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