Leseprobe
37 die Mallarmés Untergangsgedicht Un coup de dés / Ein Würfelwurf über einem weißen Ab- grund erscheinen lassen wird (Kapitel 2.2). 9 Unversehens sind so »wir«, die angesproche- nen ›verschiedenen Freunde‹, und wir Lesenden als ihre späten Wiedergänger mit dem Beginn des zweiten Quartett auf hoher See: »Nous naviguons ô mes divers, /Amis, moi déjà sur la poupe / Vous l’avant fastuex qui coupe / Le flot de foudres et d’hivers«. 10 »Der Meister«, »lemaitre«, ist, wie auch imWürfelwurf-Gedicht, der Kapitän, »déjà sur la poupe«, »schon an der Pumpe« hinten am Heck. Die emphatisch adressierten »diversen Freunde« wären demnach vorne zu finden, als Avantgarde , wie sich mit Blick auf die historische Situation des Schriftstellertreffens 1893 ergänzen lässt. 11 Dessen Teilnehmer müssen sich plötzlich im bildlich beschworenen Abenteuer der Navigation auch genötigt sehen, eben dieses »avant fastuex«, das »prachtvolle Vorwärts«, zu verteidigen – die meisten der ver- sammelten Literaten gehörten zur nächsten Generation symbolistischer Dichter. Wie einzigartig die Verskunst Mallarmés ist, demonstriert einmal mehr der Schluss- vers dieses wiederumklassisch gebauten zweitenQuartetts, der erwartbar den drohenden Untergang in den Naturgewalten auf hoher See beschwört, wie es zahllose Texte und Bilder des 19. Jahrhunderts getan haben – aber nicht so. Denn »Le flot de foudres et d’hi- vers« wäre ununterscheidbar wörtlich und in einer Genitivmetapher »Die Flut aus Blitzen und vonWintern«, im Plural, verflüssigtes weißes Licht und womöglich Schaumflocken, die wie Schnee erscheinen – oder wie der weiße Vorhang im äußersten Süden der Erde, in dem Edgar Allan Poe das Schiff des Arthur Gordon Pym verschwinden lässt. 12 Solche winterlichen Ströme sieht man in der sogenannten wirklichen Welt ansonsten nur im Modus ihrer Erstarrung, im Eis, das sich tatsächlich an den äußersten Polen der Erde, am definierten Ende jeder Seefahrt als tödliche Gefahr erweist. 13 Diese Kunst der Evokation mehrdeutiger Bilder mit sparsamsten sprachlichenMitteln ist nochmals überboten in den beiden Terzetten, die traditionell die Pointe des Sonetts vorbereiten und enthalten, Resü- durch wenige schwarze Druckbuchstaben bezeichnet werden, sind außer Flügel und Gischt auch noch das Segel, vgl. Mallarmé: Un coup de dés, in: Sämtliche Gedichte, S. 220 –265. Immer wieder ist der Ver- such gemacht worden, die explizit benannte »Constellation« dieser schwarzen Zeichen auf weißemPapier als (Negativ-)Darstellung bestimmter Sternbilder zu lesen, vgl. etwa Sylvia Sasse, Sandro Zanetti: Statt der Sterne. Literarische Gestirne bei Mallarmé und Chlebnikov, in: Maximilian Bergengruen, Davide Giu- riato, Sandro Zanetti (Hg.): Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006, S. 103 – 119. 10 Mallarmé: Salut/Gruß, V 5 – 8. 11 Rancière nennt »divers« ein »taktlose[s] Füllwort«, der Reim auf »d’hivers« gelinge »mehr schlecht als recht«, Rancière: Mallarmé, S. 23. 12 Anonym [Edgar Allan Poe]: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, North America [...], London 1838. Die logbuchartigen Auf- zeichnungen des fiktiven Polfahrers enden in einer Apotheose des Weiß, wenn im tiefsten Süden über einem milchig weißen Ozean plötzlich ein Regen aus feinsten weißen Flocken niedergeht, die an Asche erinnern, und in diesem blendendenWeiß eine übergroße menschliche Gestalt erscheint. Vgl. zu diesem Ende Norbert Miller: »Eine verhüllte menschliche Gestalt«. Antarktische Winterwunder bei Edgar Allan Poe und Jules Verne, in: Von Nachtstücken und anderen erzählten Bildern, hg. v. Markus Bernauer u. Gesa Horstmann, München 2002, S. 194–200. 13 Vgl. zur Literatur- und Kulturgeschichte des Eismeers Corne- lia Ortlieb: Eismeere. Zur Geschichte eines modernen Phantasmas, in: Hannah Baader, GerhardWolf (Hg): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich, Berlin 2010, S. 123 – 143.
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1