Leseprobe
84 In diesem doppelten Sinn ist der beschriebene Fächer als materialer Schriftträger zu- gleich auch der Ort, vom Fächer zu schreiben, und entsprechend bleibt das jeweilige Ge- dicht an sein Material gebunden, auf das es zugleich stets zurückverweist. Die scheinbar beiläufige Gelegenheitsarbeit auf widerständigem Material wird so bereits mit Blick auf die Handwerkskunst dieser Gedichte zugleich Ausweis höchster Virtuosität. Denn Mal- larmé benutzt als Schreibmaterial meist die typischen industriell gefertigten Papierfächer, die er offensichtlich in der Regel als bereits gefaltete beschriftet. Die schreibende Hand muss also buchstäblich den Widerstand des Papiers überwinden, das zudem nicht nur durch das halbrunde Format, sondern auch durch die einzelnen symmetrisch gefalteten Flächen klare Begrenzungen vorgibt. Eine weitere Beschränkung gleichermaßen mate rieller und immaterieller Art gibt sich Mallarmé zudem durch die Bevorzugung der qua- trains : Die vier kompakten Verse von einheitlicher Länge ergeben als Schriftbild zwangs- läufig ein Rechteck, und noch die seltener verwendeten Zweizeiler haben dieses Format, das zwar den senkrecht gestellten Segmenten der Fächerfalten ähnelt, aber quer zum Halbrund des Fächers steht. Zudemarbeiten alle Fächergedichtemit einemParadox von Lesbarkeit und unterwer- fen sich dabei auch wieder der weiblichen Hand, die sie dirigiert: Als Text wird die Auf- schrift nur lesbar, wenn der Fächer vollständig aufgeklappt und seine Faltung ausgezogen ist, doch die sichtbaren Knicke durchbrechen auch dann noch die Einheitlichkeit des Schriftbildes und erinnern daran, dass das Schriftgebilde jeden Moment mit einer einzi- gen Handbewegung zum Verschwinden gebracht werden kann. Wie dieser Widerstand des Materials zugleich überwunden undmarkiert ist, lässt sich demFächergedicht ablesen, das Mallarmé seiner Tochter Geneviève geschrieben hat, womöglich als Initiation und Einführung in die weibliche Fächersprache (Abb. 5). 17 Die sorgfältig quergestellten Versblöcke müssen hier die schmalen weißen Papier segmente buchstäblich überschreiben; ihr Steigen und Fallen folgt nicht nur der Rundung des Fächer-Horizonts, sondern imitiert auch die Bewegung des Aufklappens. Zu lesen ist entsprechend von links nach rechts, aber die deutlich isolierten Blöcke halten auch das Auge am einzelnen Schriftbild fest und ihrer grafischen Geschlossenheit entspricht eine inhaltliche: Hier spricht der Fächer selbst, er beschreibt sich als Gefangenen der Hand, schließlich in der letzten Strophe, imParadox der Lesbarkeit, als Zepter des geschlossenen weißen Flügels oder Flugs – »vol« – und eben diese Strophe bleibt noch als letzte sichtbar, wenn der materiale Fächer zugeklappt wird. Lesen kann man allerdings vom Fächer als Zepter genau dann nicht mehr, wenn der gegenständliche Fächer endgültig geschlossen ist und in Erfüllung des Text-Imperativs nach Art eines Zepters senkrecht gehalten wird. Wie sich hier der Fächer von Beginn an als Flügelwesen vorstellt und im Fächerge- dicht für Misia Natanson auch explizit als »aile du papier«/»Flügel aus Papier« bezeichnet, 18 variieren andere Fächergedichte das (Sprach-)Bild oder die figura etymologica des Flügels: Mal ist explizit von der Flügelspitze die Rede, mal vomSchlag gegen den Himmel, mal sind es die Federn, die benannt oder evoziert werden. Im französischen Namen des Fächers ist dieser andere Arm mit handähnlichen Enden, die vordere Extremität des Vogels, immer
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