Leseprobe
110 Ein Buch ist seit fast zweitausend Jahren, seit der Einführung des Codexformats im drit- ten Jahrhundert mitteleuropäischer Zeitrechnung, ein Stapel Papierblätter mit einem Einband. 90 Dieses Format gilt als nahezu perfekt, 91 denn man kann in einem solchen gebundenen Buch blättern und lesen, aber auch anstreichen und schreiben, es erlaubt somit eine ganze Reihe von Praktiken und Techniken, die wiederum seit Jahrtausenden von Lesenden und Schreibenden allerorts ähnlich entwickelt worden sind. Am anderen Ende einer solchen praktisch-pragmatischen Überzeugung vomvollkommenenArtefakt Buch steht die vielzitierte apodiktische Äußerung Stéphane Mallarmés, »que tout, au monde, existe pour aboutir à un livre« / »daß alles auf der Welt existiert, um in ein Buch einzugehen«. 92 Sie zitiert offenbar alte christliche Motive, wie das des ›Buchs der Natur‹ neben dem ›Buch der Bücher‹, der Bibel, die in einem anderen Sinn die ganze Welt ent- halten. 93 Über das Buch selbst, »le Livre«, das Mallarmé in diesem Kontext immer mit einem betonten Großbuchstaben schreibt, sagt sie jedoch eigentlich nichts – oder we- nigstens nicht explizit, dass »le Livre«, das eine besondere (Welt-)Buch, ein Buch im Ko- dex-Format wäre. Ein Blick auf andere Papierarbeiten Mallarmés kann zudem dazu ein- 3.3 Schachtel, Blume, Uhr. Mallarmés Buch-Basteleien 90 Eine nochmals reduzierteMinimaldefinition des Buchs findet sich imersten Satz des entsprechen- den Lemmas in einem einschlägigen Sachlexikon: »Als materielles bzw. physisches Objekt oder elek- tronisches Speichermedium ist das B[uch] Produkt eines handwerklich oder maschinell geprägten Herstellungsprozesses.« Ursula Rautenberg: Buch, in: Sachlexikon des Buchs, Stuttgart 2003, S. 83 – 84. 91 Vgl. dazu prononciert Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttin- gen 2014. 92 Stéphane Mallarmé: Quant au livre: Le Livre, instrument spirituel/Das Buch betreffend: Das Buch, geistiges Instrument, in: Kritische Schriften. Französisch-deutsch, hg. v. Gerhard Goebel u. Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 255, 254. 93 Vgl. zu diesem Kontext, in dem das Paradigma der Lesbarkeit auch solche weltumspannenden Bücher und ›Bücher‹ konstituiert, Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1979. 94 Bezeichnenderweise findet sich eben dieses zentrale Konzept der Literaturwissenschaft, gerade weil es die Arbeitsgrundlage für alles Weitere darstellt, selten explizit reflektiert oder problematisiert, vgl. aber die erhellende Zusammenstellung einschlä- giger Beiträge in Stephan Kammer, Roger Lüdeke (Hg.): Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005. 95 Mallarmé: Quant au livre, I, S. 219 –220, vgl. Bertrand Marchal: Éventails, »Éventails«, in: Philippe
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