Leseprobe

111 laden, über das Buch als materiellen Gegenstand und Objekt der Betrachtung noch ein- mal neu nachzudenken, zumal, wenn es plötzlich in Gestalt einer Schachtel, mit Buch- seiten, die als Blume oder Uhr gestaltet sind, erscheint. Eine solche einzigartige Bastelarbeit von der Hand Mallarmés ist in seinem Nachlass erhalten; sie erlaubt und verlangt ein besonderes Augenmerk auf diemateriale Verfasstheit derjenigen Elemente, die Lesende für gewöhnlich sofort in Sinn und Bedeutung überset- zen. Denn mit der Codexform stellt dieses eigentümliche Artefakt auch die Einheit und Geschlossenheit dessen in Frage, was in literaturwissenschaftlichenArbeiten für gewöhn- lich umstandslos ein Text genannt wird: ein stabiles Gebilde aus lesbaren Zeichen mit genau definierten Rändern, das sich ohne nennenswerte Verluste in andere Medien und somit auch Materialien kopieren lässt. 94 Die Erweiterung des Konzepts Buch kann sich gleichfalls auf Mallarmé selbst berufen, der bereits in einem früheren Text über die »Jah- reszeiten des Lesens« beschreibt, wie Leserinnen amStrand das Buch als Fächer benutzen, während umgekehrt die glücklichen Nicht-Leserinnen den »anderen und lebendigeren Papier-Flügel nutzen können: unendlich und begrenzt in seiner Entfaltung« / »cette autre aile de papier plus vive: infiniment et sommaire en son déploiement«. 95 Der Fächer ähnelt ohnehin mit seinen gefalteten Seiten bereits vor seiner Beschriftung strukturell dem (Papier-)Buch, und er lässt, wie BertrandMarchal bemerkt hat, imRhythmus der fächeln- den Hand und ihrer Schläge beim Zuklappen eine Art stummes Gedicht erklingen. 96 Ein solches Ding bietet also offensichtlich nicht nur einen besonderen Hintergrund für die Lektüre eines ›Textes‹, der ebenso gut als Drucktext reproduziert werden könnte, sondern es ermöglicht spezielle Formen der Interaktion und bietet dabei zumindest einen ›Überschuss anWahrnehmungen‹. 97 Diese besonderenObjekte der Betrachtung und Lek- türe bestätigen einmal mehr Bruno Latours Befund, mit einem solchermaßen rekonstru- ierenden (»archäologischen«) Blick findeman ›nicht Dinge, sondern Praktiken‹. Latour hat zur Illustration dieses Gedankens das einzigartige Beispiel des ›Berliner Schlüssels‹ ge- wählt, den eine fiktive Archäologin in einer fernen Zukunft nicht als speziellen Gegen- Rollet (Hg.): Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de StéphaneMallarmé. Katalog der Ausstellung inVulaines-sur-Seine 19.9.–21. 12. 2009, Montreuil-sous-Bois 2009, S. 26 – 33, hier S. 31. 96 Marchal: Éventails, »Éventails«, S. 31. Vgl. zu den folgenden Abschnitten ausführlich Cornelia Ort- lieb: Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder, in: Lena Bader, Georges Didi-­ Hubermann, Johannes Grave (Hg.): Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zumWechsel- verhältnis von Bild und Sprache, Berlin 2015, S. 113 – 128.  97 Diese Formulierung schlägt Hans Peter Hahn vor: »In den Dingen steckt [...] mehr, als imhabituellen Umgangmit ihnen für gewöhnlich zutage tritt. Die Dinge treten dem Betrachter und Benutzer entgegen mit dem, was an dieser Stelle proviso- risch als ›Überschuss derWahrnehmungen‹ bezeichnet werden soll.« Hahn verweist dabei auf seinen Aufsatz: Die Unsichtbarkeit der Dinge. Über zwei Perspektiven zu materieller Kultur, in: Herbert Kalt­ hoff, Thorsten Cress, Tobias Röhls (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kultur­ wissenschaft, München 2015, S. 45 – 62; Hans Peter Hahn: Der Eigensinn der Dinge – Einleitung, in: ders. (Hg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015, S. 9 – 56, hier S. 12.

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