Leseprobe
112 stand und Werkzeug zu identifizieren vermag, wenn sie nicht den Hinweisen auf seine Handhabung im Kontext preußischer Schließordnungen folgt. Das metallene Ding gibt durch seine speziellen materiellen und formalen Eigenschaften unmissverständlich Aus- kunft über seinen einzig möglichen Gebrauch als Durchsteckschlüssel, der die typische Hoftür eines Berliner Mehrfamilienhauses öffnet, sich aber nur abziehen lässt, wenn er durch das Schloss hindurchgesteckt und auf der anderen Seite die Tür mit einer weiteren vom Schlüssel unmissverständlich angeleiteten Handbewegung wieder verschlossen wird. Diese untrennbare Verbindung von Dingen und Praktiken ist hier durch eine Art schriftliche Selbst-Reflexion des im doppelten Sinn beschriebenen Gegenstands subtil inszeniert und überboten. 98 Zugleich gerät in Sicht, was Roland Reuß als Eigenart der Dinglichkeit des Buchs (ohne Formatangabe) gegen die Zweidimensionalität der Bild- schirmschrift pointiert hat: »Der Dinghaftigkeit der Buchstaben gibt das Buch, selbst Ding, ein Zuhause. Lesen ist eine Körpertechnik, die ihr Spiel in den Koordinaten eines aufgespannten dreidimensionalen Raums hat (diese Formulierung gebraucht in jenem Sinn, in demman von einem Keilriemen sagt, er müsse ›Spiel haben‹).« 99 Das im Folgenden untersuchte Beispiel aus einer kleinen Serie von speziellen Arte- fakten aus dem Nachlass Mallarmés, die womöglich geeignet sind, über das Konzept des Buches als einem je spezifischen Verbund von Dingen und Praktiken in den histo- rischen Avantgarden nachzudenken, scheint anderen, fraglos als Buch identifizierbaren Dingen zunächst noch sehr nahezustehen. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von sechzehn Kartonblättern, die zusammen offenbar den Inhalt einer (nicht erhalte- nen) Schachtel bilden sollten, deren erster Anlass und Zweck ein pädagogischer gewe- sen seinmag. Einem breiteren Publikumwurde diese Arbeit erstmals imWinter 2015 in einer Ausstellung über den »Poète Pédagogue« / »Dichter-Pädagogen« präsentiert. 100 Mallarmé, Vater eines früh verstorbenen Sohns und einer Tochter, hat jahrzehntelang als Englischlehrer gearbeitet und auch in verschiedenen Publikationen die Eigenart die- ser Sprache und ihrer Vermittlung reflektiert. 101 Zahl, Umfang und Reichweite der größ- tenteils unveröffentlichten (und nicht ins Deutsche übersetzten) Materialien zu Mal- larmés Auseinandersetzung mit demEnglischen sind beachtlich: Außer dembekannten Grammatikbuch von 1877 ( Les Mots Anglais. Petite Philologie à l’usage des classes et du monde / Die englischenWörter. Kleine Philologie zum Gebrauch für Klassen und jedermann ) sind imNach- lass etliche Zeugnisse seiner (häufig kritisierten) Lehrtätigkeit und andere eigenhändige Manuskripte aus demUmfeld des veröffentlichten Buchs erhalten, darunter ein ähnlich konzipiertes Lehrbuch für jüngere Kinder, aber auch ein Konvolut von Notizen zu einer geplanten Anthologie englischsprachiger Dichtung ( Beautés de l’anglais / Schönheiten des Englischen ), ein weiteres Lehrbuch und eine Sammlung englischer Kinderreime. Den unmittelbaren Anlass für die Arbeit an der Schachtel soll, einer deutlich später verfassten Anekdote eines seiner Freunde zufolge, zu Beginn der 1880er Jahre Mallarmés Sorge um die Finanzierbarkeit seiner Sommeraufenthalte in Valvins gegeben haben, die bezeichnenderweise mit einer Art Epiphanie vor einem Schreibwaren- und Buchladen zur Idee einer pädagogischen Anleitung des eigenständigen Englisch-Lernens geführt
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