Leseprobe

124 verbergen oder arbeitet selbst an ihm mit, wie im Fall der englischen Zunge. Diese Inter­ aktion des Materials und ihre Bedeutung für die Aufhebung der je eigenen Grenzen von Papierblättern und Codexbänden im neuen Buchformat der Schachtelkartons lässt sich abschließend an einem einzigartigen Beispiel in der kleinen Sammlung zeigen. Wenn es mit Blick auf die Fülle der beschrifteten und beschriebenen Dinge und MaterialienMallarmés naheliegt, auch imHinblick auf ein Paradigma von Lesbarkeit ihre Buchartigkeit zu behaupten, so wird dies ausgerechnet dort gestört, wo im Deutschen selbstverständlich vom ›Lesen‹ gesprochen wird, bei der Uhr als Maschine und Zeichen- system. Mit dem Schuleintritt ist bis heute vielerorts nicht nur das ans Schreibenlernen gekoppelte Lesen von Buchstaben verbunden, sondern auch die Einübung von Konven- tionen der Benennung der Zeiteinteilung, die man nach wie vor auch einer analog gestal- teten Ziffernfläche und nicht nur ihrer digitalen Anzeige ›ablesen‹ können muss. Mallarmés Uhr ist dagegen der vielleicht dezidierteste Versuch, von einer solchen täuschenden Analogie zwischen Buchstaben und Zahlen abzusehen und stattdessen das Gemachte und materiell Konstruierte der (westlichen) Begriffe von Zeit, wie sie sich im Gegenstand und Bild der Uhr manifestieren, deutlich zu machen, in einer geradezu anti-­ metaphysischen Pointierung (Abb. 18). Zugleichweist eben dieser Kartonmit der römischen Nummerierung XII den höchs- ten Grad an Abstraktion auf, schon indem er mit »Quelle heure est-il? What a clock is it? What time is it?« überschrieben ist. 123 Mit der dreifachen Frage an die adressierten Be- trachtenden, »wieviel Uhr es ist «(französisch), aber auch, doppelt englisch, wörtlich, »was für eine Uhr ist es?« und »welche Zeit ist es?« kommenmaterielle Objekte der Zeitmessung mit einer letztlich nicht zu beantwortenden, gleichermaßen physisch konkreten und metaphysisch abstrakten Grundfrage der Weltwahrnehmung zusammen. Was die Zeit ist, wäre in Abwandlung der berühmten Erklärung des Kirchenvaters Augustinus etwas, das wir zwar wissen, aber auf Befragen nicht erklären können, und entsprechend nimmt Mallarmés Apparat vielleicht weniger die bahnbrechenden physikalischen und phäno- menologischen Erklärungen des frühen 20. Jahrhunderts vorweg als die sprachphiloso- langue et s’apparentent, de ce point de vue, aux dispositif des mystiques du Moyen Âge, cherchant par des pages animées à donner une vision panoptique et complète de la connaissance.«/»Die belebten ErfindungenMallarmés stellen ein Dispositiv der Erscheinung von Sprache her und nähern sich in dieser Hinsicht dem Dispositiv der Mystiker des Mittelalters, indem sie versuchen, durch die beweglichen Sei- ten mit einer Sicht von überall her bekannt zu machen.« IndemMallarmé das Dispositiv schulgemäßer Darstellung aufbricht und neue, logische Ordnungen vorschlägt, wird ihr zufolge auch ein freier Umgang mit dem Englischen initiiert, der den ganzen Körper einbezieht: »Par une même fìche, on peut saisir et pratiquer en y engageant tout le corps, toutes les formes de walk, formes affirmatives, négatives, inter- rogatives, présentes et passées, au lieu d’apprendre des conjugaisons.«/»Mit einem solchen Blatt kann man zugreifen und selbst arbeiten indem man den ganzen Körper einbezieht, alle Formen des walk [Durchgehens], zustimmende, ablehnende, fragende, gegenwärtige, vergangene, anstatt Konjugationen zu lernen.« Pouly: Révolutionnaire universel?, S. 89, Übersetzung CO.  123 Mallarmé, L’Anglais récréatif , Karte [XII]: Qu’elle heure est-il?, in: Marchal, Pouly (Hg.): Mallarmé et L’Anglais récréatif, S. 74.

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