Leseprobe
182 dieser ersten geläufigen Zuordnung lässt sich die weitreichende rezeptionsästhetische Frage stellen, ob das Blatt tatsächlich immer in dieser Weise schnell oder vorschnell ein- geordnet werden wird oder ob der Blick nicht doch vor allem von den auffälligen Bild- Elementen zuerst gefangen und in gewisser Weise auch abgelenkt ist. Denn auch wenn bis heute solche handelsüblichen bedruckten Briefpapiere im Gebrauch sind, zumindest dort, wo überhaupt noch Briefe auf Papier geschrieben werden, handelt es sich hier den- noch umein ungewöhnliches Exemplar, das in seinen Formatvorgaben geradezu paradox angelegt ist. Offensichtlich gibt es einen ausgespartenweißen Raum in der Mitte, der zum Beschreiben einlädt oder geradezu auffordert, zugleich schiebt sich aber das bunte Dekor vom Rahmen her bis weit ins Innere der Seite, so dass, wiederum leicht paradox, der Rahmen das weiße Quadrat der leeren Bildfläche in der oberen Hälfte des Blattes zu be- drängen scheint oder gar zu verdrängen droht. Zudem weist das Blatt in Gestalt der digitalen Photographie, in der es üblicherweise nur betrachtet werden kann, noch eine zweite rechteckig-weiße Fläche unten an der rech- ten Seite auf, die gleichermaßen das Auge der Betrachterin anzieht und als beschriftete zumLesen auffordert. Umbeide weiße Rechtecke zugleich in den Blick zu nehmen, muss man, wie es Lesende für gewöhnlich tun, mit tastenden Augensprüngen von oben nach unten und wieder von unten nach oben gelangen, dabei auch die Blickrichtung von rechts nach links und von links nach rechts wechseln, aber eben das, was im technischen Sinn nur als Bild-Dekor umdie Schrift herumangeboten ist, verhindert oder verzögert zumin- dest eine solche automatisierte Lesehaltung. Vielmehr wird der Blick zugleich angezogen und verlangsamt dadurch, dass er sich zunächst auf die Mitte des Blattes richten will, auf die von der Unterkante des weißen Feldes ja auch markierte Horizontlinie, vor der die fremdartige Gestalt einer japanisch gekleideten Frau mit geneigtem Kopf einen Blick in eine fernere Tiefe zu öffnen scheint. Schaut man, von den bunten Farben und ungewöhnlichen Formen angezogen, in dieser Weise auf die Mitte des Dekor-Bilds, so tritt der bekannte Effekt ein, dass die beschriftete weiße Fläche vorne rechts nur noch verschwommen am unteren Rand des Sichtfelds erscheint. Um den Blick auf dieses Schwarz-Weiß-Gebilde zu richten, muss man quasi zurückzoomen, vielmehr eine Art von visueller Distanz einnehmen indemman etwa nicht nur mit den Augen, sondern mit Kopf und Körper ein Stück zurückweicht. Wenn man so das Schriftgebilde im Vordergrund fixiert, öffnet sich dann aber erst recht die vermeint liche räumliche Tiefe, die durch die Staffelung der drei Frauenfiguren, die perspektivische Darstellung des steinernen Wegs, der vom Land vorn zum Wasser hinten führt, und schließlich durch die wiederumperspektivisch verkleinerten Landschaftselemente imHin- tergrund erzeugt wird. Zugleich ist das Rechteck vorne untenwie sein größeres Gegenüber oben auch eine denkbar grobe Sichtschranke, hinter derenweißer Fläche vorne außer dem Körper der mittleren Frau auch noch, wie links daneben, andere Tiere oder Pflanzen zu sehen sein könnten. Aber spätestens an dieser Stelle drängt sich die für rezeptionsästheti- sche Überlegungen insgesamt beunruhigende Frage auf, wie allgemein überhaupt solche Behauptungen über Blickführung und Leserichtung gefasst sein können.
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