Leseprobe
183 Im Folgenden will ich zeigen, dass dieser Brief Stéphane Mallarmé an die von ihm umworbene Tänzerin und SchauspielerinMéry Laurent, zumal mit einemRätsel amEnde, das wie eine Flaschenpost verspätet bei heutigen Lesenden ankommt, genau mit diesen widerstreitenden Haltungen zu Bild und Schrift und zu ihrer Verbindung arbeitet, um zugleich die Beschränkungen der eigenen Kunst so beiläufig wie virtuos zu überwinden – und wie nebenbei eine eigene Raum- und Zeitordnung nur für dieses komplexe Artefakt zu schaffen. Als Briefblatt in einemheute geläufigen Format zieht die Papierseite trotz ihres auffälligen Dekors, das als Parergon das weiß gerahmte Ergon des schwarz geschriebenen Textes zu verdrängen droht, unsere Aufmerksamkeit wohl doch relativ bald auf das Schrift- gebilde, das freilich in seiner Verdopplung diese Fokussierung zugleich wieder ablenkt. 3 Doch auch beim Blick auf die Schriftzüge, die Lesende normalerweise mit sprung artigen Augenbewegungen (sogenannten Saccaden ) wahrnehmen, wird man zuerst auf deren spezielle graphische Gestaltung aufmerksam werden und den Blick ein weiteres Mal bei auffälligen einzelnen Elementen still stellen. 4 Beim oberen Schriftbild sind es die abgesetzte erste Zeile und ihr Gegenüber links unten – und dessen Gegenüber in den zwei einzelnen Graphemen rechts, die wiederum auf der selben Höhe der Betrachtung liegen wie ein auffälliges Element der Dekorzeichnung, denn von rechts weist ein schwarzer Rabenvogel oder einGebilde, das diesemprominenten Vogel ähnelt, quasi mit demSchna- bel auf diese untere Zone des Textes. Schwarz hervorgehoben wie dieses Graphem ist in den zum Rechteck gefügten Zeilen, wie man auch noch ohne zu lesen erkennt, nur ein einzigesWort, das etwa doppelt so dick geschrieben ist wie alle anderen und sich ziemlich genau in der Mitte der unteren Zeile befindet. Die gleichförmig in gut lesbarer Schreib- schrift mit links jeweils exakter Ausrichtung parallel zur schwarzen Umrandung gesetz- ten Zeilen sind, womöglich zufällig, insgesamt vierzehn – das wäre für die Versdichtung eine überaus einschlägige Zahl, nämlich die Verszahl des Sonetts, des klassischen Formats der Liebesdichtung, das Mallarmé viele Male variiert hat – unter anderem in Gedichten über und für Méry Laurent. Ganz anders dagegen präsentiert sich das zweite Schriftgebilde, das sich auch durch seine Platzierung rechts unten imweißen Rechteck des Vordergrunds eigentlich zur ersten Lektüre anbietet: Hier sind vier Verse, wiederummit exakt platzierten erstenAnfangsbuch- staben links, viel deutlicher voneinander abgesetzt durch den großzügigenWeißraumzwi- schen den einzelnen Zeilen – und auch nach unten ist noch Platz gelassen, der mit Blick auf eine Vielzahl anderer Gedichte Mallarmés immer schon und für immer weiß bleibenmuss, weil sie typischerweise vier Verse umfassen; sie heißen entsprechend quatrains / Vierzeiler . 3 Vgl. zum Verhältnis von Innen und Außen, analog zu Bild und Rahmen oder Buch und ›Beiwerk‹, ein- gehend Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb: Sammlung und Beiwerk, Parerga und Paratexte. Zur Einführung, in: Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb, Gudrun Püschel (Hg.): Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge insze nieren. Sammlung und Beiwerk. Dresden 2018, S. 7 – 30. 4 Vgl. zur Physiologie des Lesens und zur Wahr- nehmung von Schrift Sabine Groß: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß, Darmstadt 1994.
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